Die schwarze Kathedrale
erhellt, daß mich plötzlich die Erinnerung überfiel, wie er vor vielen Jahren mich selbst auf die gleiche Weise angelächelt hatte, und ich empfand den Verlust mit einem scharfen Stich der Trauer, ja sogar der Eifersucht. Ich beobachtete die Szene nur wenige Sekunden lang, denn ich fürchtete, er könnte zum Fenster blicken und mich sehen, obwohl ich annehme, daß das Licht im Zimmer die Fensterscheiben in schwarze Spiegel verwandelt hatte. Ich trat vom Fenster zurück und ging benommen die Straße hinunter.
Das also war seine große Leidenschaft: eine schmutzige Liaison mit einer Frau aus diesem schäbigen Stadtviertel. Was für ein Narr ich doch gewesen war, nicht zu bedenken, daß seine Liebschaft der Grund für seinen nächtlichen Ausflug sein mußte! Ich hatte Angst, er könnte herausfinden, daß ich ihm gefolgt war. Und gleichzeitig war ich verblüfft. Der Austin, den ich gekannt hatte, war niemals auf käufliche Liebe ausgewesen, wie so viele unserer Studienkameraden an der Universität. Tatsächlich hatte er meines Wissens niemals irgendwelche Affären gehabt. Und während seiner Freundschaft mit meiner Frau hatte ich mir in dieser Hinsicht keine Sekunde lang Sorgen gemacht.
Ich dachte daran, wie er durch die dunklen, stillen Straßen zu seiner Geliebten geeilt war. Wie lächerlich, in seinem Alter. Und doch auch wieder beneidenswert. Ich mußte stehenbleiben und tief durchatmen, als ich an die schiere, nackte Schamlosigkeit dieses Abenteuers meines Freundes dachte.
Am Ende der Straße hatte ich mich wieder gefaßt und stellte fest, daß ich wußte, wo ich war. Ich stand an der Ecke der Straße, die zu dem Gäßchen führte, in dem ich Austin aus den Augen verloren hatte. Ich verlangsamte meine Schritte. Plötzlich kam mir der Gedanke, daß die Affäre vielleicht gar nicht das war, was ich angenommen hatte. Vielleicht war Austin wirklich in eine Frau verliebt, die seiner Liebe würdig war. Und doch legte ihr nächtliches Treffen den Verdacht nahe, daß ihre Beziehung unerlaubt war. War sie verheiratet? War sie vielleicht sogar die Frau eines Kollegen oder eines Mannes, der ein Amt in der Kathedrale bekleidete? Ich dachte an den Kreislauf von Enttäuschung, Erregung, Zorn und Verlangen, durch den ich vor zwei Jahrzehnten getrieben worden war. Wer war diese herrschsüchtige, unvernünftige Person, die solche Macht über ihn besaß – die ihn offenbar mitten in der Nacht zu sich beordert hatte, ganz egal, was er dabei riskierte? Vielleicht hatte sie ihn ja nach einer Zeit verzweiflungsvoller Verbannung, in der sie einen Rivalen liebevoll anlächelte, wieder zu sich gerufen. Wenn ich daran dachte, was ich selbst gelitten hatte, wußte ich kaum, ob ich ihn beneiden oder bedauern sollte.
Dann kam mir ein entsetzlicher Gedanke, wer die Frau sein könnte. Ich wollte es nicht glauben. Wie sollte eine solche Frau Austin für würdig befinden, ihn zu lieben? Und doch wußte ich, daß der wirkliche Austin, der Austin, den ich gekannt hatte, sofern er noch existierte, ihrer würdig sein könnte, denn seine besten Eigenschaften waren bewundernswert gewesen. Und unter allen Frauen der Welt war sie diejenige, die diese Eigenschaften entdecken und fördern würde, denn wie ich gesehen hatte, war es charakteristisch für sie, immer das Beste von den Menschen zu denken und zu versuchen, selbst ihre schlimmsten Taten zu verstehen und zu verzeihen. Mit Entsetzen dachte ich daran, daß es oft erst die Großmut des Liebenden ist, die einen unwürdigen Geliebten wertvoll erscheinen läßt.
Ich ging zu Austins Haus zurück, stampfte den Schnee von den Stiefeln, bevor ich eintrat, und stieg mit einer brennenden Kerze hinauf zum Wohnzimmer. Ich hatte einen Entschluß gefaßt, wie ich vorgehen wollte. Austins Betragen paßte zu anderen seltsamen Reaktionen, die ich seit meiner Ankunft an ihm beobachtet hatte – daß er mich am Nachmittag auf dem Domplatz beobachtet hatte, der abrupte Stimmungswechsel von Freundlichkeit zu Abneigung. Die jetzigen Umstände, die Tatsache, daß es mitten in der Nacht war, der Schnee, die Gestalt, die ich gesehen hatte, all das zusammen schien zu bedeuten, daß ich aus dem normalen Leben hinausgetreten war und daher das Recht hatte, Maßnahmen zu ergreifen, die ich mir unter normalen Umständen niemals gestattet hätte. Mir war der Gedanke gekommen, es könnte eine Verbindung bestehen zwischen dem Diebstahl der Miniaturen aus dem Haus von Dr. Sheldrick am Dienstag abend – falls es sich wirklich
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