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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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hat mich für morgen eingeladen. Ich meine: uns.« Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Austin von der Einladung erfahren haben sollte.
    »Nein heute. Er meinte heute.«
    »Ich bin mir sicher, daß er morgen gesagt hat. Am Freitag.«
    »Er hat den Termin geändert.«
    »Aber Austin, woher weißt du denn überhaupt davon? Ich habe ganz vergessen, dir zu erzählen, daß ich ihn gestern zufällig kennengelernt habe, als ich die Inschrift lesen wollte.«
    »Das ist mir klar.«
    Ich war verblüfft. Gab er damit zu, daß er mir nachspioniert hatte? Die Sache schien mir peinlich, und weil ich nicht wollte, daß er noch mehr über sein seltsames Betragen sagte, fuhr ich fort: »Ich hatte nicht angenommen, daß du mitkommen wolltest. Woher weißt du, daß er den Termin geändert hat?«
    »Woher ich das weiß? Weil er es mir gesagt hat. Ich habe ihn gestern abend zufällig getroffen. Ich habe auch vergessen, dir das zu erzählen.«
    »Aber woher wußte er, daß wir befreundet sind? Ich bin mir sicher, daß ich ihm das nicht gesagt habe.«
    »In dieser Stadt gibt es keine Geheimnisse«, meinte Austin kurz angebunden. Und mit dieser Erklärung mußte ich mich wohl zufriedengeben. »Ich werde dich also vor der Bibliothek erwarten, wenn sie schließt, und dann gehen wir zusammen hin.«
    Ich nickte. Es war seltsam. Wenn Austin mich gestern nachmittag nicht beobachtet hatte, während ich mich mit dem alten Herrn unterhielt, warum hätte er dann mit Mr. Stonex reden sollen? Mein Verdacht, daß er mir nachspioniert hatte, mußte also zutreffen. Er hatte wahrscheinlich herausfinden wollen, was zwischen mir und dem alten Mann geredet worden war.
    Wenige Minuten später war Austin bereit zum Aufbruch. Er hatte hastig Toilette gemacht, sah aber immer noch schlecht rasiert und unordentlich aus. Ich hatte auf ihn gewartet, damit wir das Haus zusammen verlassen konnten. Als wir die Eingangstür öffneten, stellten wir fest, daß in den letzten Stunden über zehn Zentimeter Schnee gefallen waren. Schweigend stapften wir über die fast unberührte weiße Fläche.
    Als wir am Eingang zum Querschiff der Kathedrale vorbeigingen, überholten wir zwei Jungen. Der eine hielt den anderen fest. Ich lächelte Austin an und fragte mich, ob die beiden bei ihm die gleichen Erinnerungen an unsere Jugend wachriefen, aber er schien sie gar nicht zu bemerken. Der größere Junge, der Austin voller Verachtung ansah, trug einen blauen Gehrock, Kniehosen und Schnallenschuhe – vermutlich die vorgeschriebene Uniform der Lateinschule –, während der andere eine einfache schwarze Jacke zu seinen Kniehosen anhatte und wohl ein Schüler der Chorschule war. Mir fiel ein, daß Austin von der Rivalität zwischen den beiden Schulen erzählt hatte, was diese Szene zu bestätigen schien. Als wir an den beiden vorbeigingen, sagte der kleinere Junge, der in beängstigender Weise stotterte, daß er schon zu spät dran sei und Ärger bekommen würde.
    Einen Augenblick später wandte ich mich um und sah, daß der ältere Junge den anderen beim Genick gepackt hatte und ihm einen Schneeball in den Kragen stopfte. Der Kleinere versuchte sich zu wehren, woraufhin ihm sein Gegner zweimal in rascher Folge ziemlich hart auf die Brust schlug. Ich wollte schon zurückgehen und eingreifen, aber dann ließ der große den kleineren Jungen los, und dieser rannte davon. Im Gegensatz zu den immer wachsamen Schulmeistern meiner Kindheit gab Austin durch nichts zu erkennen, daß er die Szene beobachtet hatte.
    Wir gingen schweigend bis zum Ende der Kathedrale, wo wir uns trennten, nachdem Austin mich noch einmal an unsere Verabredung erinnert hatte. In diesem Moment sah ich den jungen Quitregard um die Ecke des Wandelganges biegen. Wir begrüßten uns und legten die letzten Meter zusammen zurück. Ich berichtete ihm von dem Vorfall, den ich gerade beobachtet hatte. Er erzählte, daß er den Chorbuben wenige Minuten vorher gesehen habe und daß er selbst einen Bruder an der Chorschule habe. Kurz vor halb acht standen wir vor der Bibliothek, und Quitregard schloß die massive Tür auf.
    »Waren Sie selbst auch Schüler dieser Schule?« fragte ich. »Ich war im Courtenay Institut, der Lateinschule.«
    »Es wundert mich, daß Brüder auf zwei verschiedene Schulen geschickt werden«, meinte ich und stampfte auf dem Fußabstreifer vor der Tür herum, um meine Stiefel vom Schnee zu befreien.
    »Ach wissen Sie, ich kann keine einzige Note richtig singen.«
    »Dennoch überrascht es mich, denn soviel

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