Die schwarze Kathedrale
kann ich nicht sagen.
Die friedliche Stadt gab mir die Sicherheit wieder, daß die Welt des normalen Lebens, des Wechsels von Schlaf und Arbeit, noch immer existierte, denn was ich gesehen hatte, war wie ein Angstschrei mitten in einem Kammerkonzert, ein Blick auf Schmerzen und Zorn, die stark genug waren, einen Mann zweihundert Jahre nach seinem Tod aus dem Grab zu treiben. Ich überließ es meinen Beinen, mich zu tragen, wohin sie wollten. Meine Fußabdrücke waren die einzigen Spuren in der leichten Schneedecke, die sich über die Stadt gebreitet hatte. Ich erinnere mich, daß ich schließlich auf einer kurvigen Straße einen sanft ansteigenden Hügel erklomm. An der Straße standen große Villen, jede mit einem schmiedeeisernen Balkon, einer Veranda und gestrichenen Fensterläden. Ich weiß auch noch, daß ich auf dem Gipfel des Hügels stehenblieb und auf die Häuser mit ihren langgestreckten Gärten hinunterblickte, die bis zu einem kleinen, ganz von Trauerweiden gesäumten Fluß hinunterreichten. Ich erinnere mich, daß ich mir dachte, wie schön es hier im Sommer sein müsse, auch wenn die Bäume zu dieser Jahreszeit still und kahl im winterlichen Mondlicht standen. Ich dachte an die Eltern und Kinder und Dienstboten, die in den Häusern schliefen, und seufzte bei dem Gedanken, wie wunderbar diese Villen sein mußten, um dort aufzuwachsen oder Kinder großzuziehen.
Von hier oben gesehen lag die kleine Stadt wie ein Kinderspielzeug vor mir, selbst wenn die Aussicht durch den fallenden Schnee verschleiert war. Im Zentrum der Stadt ragte die dunkle Silhouette der Kathedrale hoch über den niedrigen Dächern auf, die sie umgaben. Und als ich an den dunklen, engen Domplatz in ihrem Schatten dachte, verspürte ich nicht das Bedürfnis, aus der klaren Luft und Weite auf dem Hügel dorthin zurückzukehren.
Nach einer Weile machte ich mich wieder auf den Weg. Ich folgte einer anderen Straße den Hügel hinunter, ohne einem Menschen zu begegnen, bis ich schließlich in eine Gasse am Stadtrand gelangte, die mit ihren strohgedeckten Hütten und ihrer holprigen Fahrbahn wie eine Dorfstraße wirkte. Dort rumpelte mir ein Milchwagen entgegen, kutschiert von einem stämmigen jungen Mann, der mir einen fröhlichen Gruß zurief.
Diese Begegnung mit einem lebendigen, menschlichen Wesen brachte mich wieder zur Besinnung. Ich eilte wieder zum Stadtzentrum zurück. Der Turm der Kathedrale, der vor dem dunklen Nachthimmel aufragte, diente mir als Wegweiser. Nach ein paar Minuten hatte ich mich ihm so weit genähert, daß er zwischen den Häusern verschwand. Aber dann hörte ich die Kirchturmuhr die halbe Stunde schlagen und wußte, daß ich nicht mehr weit entfernt sein konnte. Es war halb drei. Ich irrte in den engen Nebenstraßen und zwischen den Gärten herum, bis ich mich endlich in einem der Gäßchen wiederfand, durch die ich gegangen war, als ich Austin aus den Augen verloren hatte.
Plötzlich stieg mir der Duft nach Butter und Ingwer in die Nase. Hier wurde gebacken. Ich ging dem Geruch nach. Als ich in eine lange, schmale Straße einbog, sah ich ein vereinzeltes Licht. Es gab hier viele große, alte Häuser aus verblichenen roten Ziegeln, die einen heruntergekommenen Eindruck machten, mit Türen und Fensterrahmen, von denen die Farbe abblätterte und deren Holz darunter verrottete. All diese Häuser wiesen mehrere Glocken und Namensschilder auf – ein sicheres Zeichen, daß man sie in mehrere Wohnungen aufgeteilt hatte. Ich ging zu dem beleuchteten Fenster und warf einen Blick hinein.
Die ausgefransten Vorhänge waren einen Spaltbreit geöffnet. Durch diesen Spalt konnte ich gerade einen Teil von Austins Gesicht und seines Körpers erkennen. Er saß auf einem Stuhl und redete, aber ich konnte nicht sehen, mit wem. Er hielt ein Glas in der Hand und trank etwas. Ich bemühte mich, etwas zu verstehen, konnte aber nur undeutliche Stimmen ausmachen, von denen eine die Stimme einer Frau war. Ob sie außer Austin die einzige Person im Zimmer war oder ob sich sonst noch jemand in dem Raum aufhielt, konnte ich nicht feststellen. Und dann bemerkte ich eine Hand, die mir zu groß erschien, als daß sie einer Frau hätte gehören können, deren Finger jedoch schlank und zart waren. Diese Hand wurde nach Austin ausgestreckt und blieb mit einer seltsam intimen Geste eine Weile auf seinem Knie liegen.
Austin lächelte die unsichtbare Person mit solcher Zärtlichkeit an, und seine Züge waren von so offensichtlichem Glück
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