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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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mußte, den ich gesehen hatte, konnte sie jedoch nicht akzeptieren. Alles, was ich wußte und glaubte, würde damit auf den Kopf gestellt werden.
    Ich blieb stehen und wartete, wer aus der Tür treten würde, die zur Treppe der Orgelempore führte. Endlich, als mir klar wurde, daß niemand diese Stufen herunterkommen würde, drehte ich mich um und ging wie in Trance durch das Querschiff zum Ausgang.
    Als ich ins Freie trat und die Tür hinter mir zuzog, wurde ich von unerwartetem Weiß geblendet. Die Luft war erfüllt von Myriaden von Schneeflocken, die plötzlich aufleuchteten, wenn das Mondlicht sie traf. Während ich in der Kathedrale gewesen war, hatte es offenbar zu schneien begonnen, und es war genug Schnee gefallen, um das Kopfsteinpflaster und die Dächer zu bedecken. Es war mir nicht bewußt gewesen, daß ich mich so lange in der Kathedrale aufgehalten hatte, daß sich inzwischen eine solche Menge Schnee hatte ansammeln können. Mit dem ersten Schnee des Winters wird die Welt neu geboren. Unwillkürlich mußte ich an meine Kindheit denken – wie ich mit meinem Kindermädchen durch den Schnee stapfte, um den Schlittschuhläufern auf dem Teich zuzusehen, wie ich am Ende meines ersten Halbjahres aus der Schule zurückkehrte und die Kutsche sich auf dem Weg nach London mühsam durch den immer tiefer werdenden Schnee kämpfte, wie ich am Weihnachtsabend auf die Heimkehr meines Vaters wartete und wußte, daß ich an diesem Abend lange aufbleiben und mit meinen Eltern heißen Punsch trinken durfte. Die Erinnerungen bewegten mich so tief und erschienen im Vergleich zu dem, was mir soeben widerfahren war, so unschuldig, daß mir Tränen in die Augen traten.
    Und dann geschah es. Ich berichte hier nur, was ich in jener Nacht gesehen habe. Ich bitte den Leser um Nachsicht.
    Etwa sechzig Meter von mir entfernt stand im blassen Mondlicht eine schwarze Gestalt am Eingang des Gäßchens, in dem Austin verschwunden war. Sie hob sich deutlich vom Schnee ab, aber es war nicht Austin. Diese Gestalt war viel größer, und sie hatte das Gesicht des Wesens, das ich gerade auf der Orgelempore erblickt hatte. Wenn es ein menschliches Wesen war, gab es keine Möglichkeit, wie es von dort aus zu der Stelle hätte gelangen können, an der es sich jetzt befand, ohne daß ich es gesehen hätte, denn ich hatte ja die Tür zu der Treppe beobachtet, die zur Orgelempore führte, und war dann auf direktem Weg durch die einzige unverschlossene Tür der Kathedrale gegangen! Und wieder schien die Gestalt mich anzustarren. Mit einem langen, verächtlichen Blick. Dann wandte sie sich um und bog mit unbeholfenen Schritten in das Gäßchen ein. Sie hinkte und wirkte wie eine verwundete Kreatur, die sich voller Schmerz, Elend und Wut davonschleppte.
    Ich hatte William Burgoyne gesehen. Ich war mir ganz sicher. Und wenn das stimmte, dann war die Welt nicht so, wie ich immer gedacht hatte. Die Toten konnten wieder gehen, denn ein Mann, der vor zweihundert Jahren gestorben war, hatte vor mir gestanden. Das bedeutete, daß alles, was ich geglaubt hatte, all die ordentlichen, rationalen, fortschrittlichen Ideen, die mein Leben bestimmt hatten, kindische Spielereien waren, die nur bei Tageslicht gespielt werden konnten. Sobald es dunkel wurde, traten die wahren Mächte ihre Herrschaft an, und sie waren unangreifbar, irrational und böse.
    Ich weiß nicht, wie lange ich dort verharrte – zehn Minuten, fünfzehn Minuten, eine halbe Stunde –, denn noch nie hatte ich die Zeit so sehr als Illusion empfunden. Als ich wieder zur Besinnung kam, betrachtete ich das schneebedeckte Kopfsteinpflaster. Im schwachen Mondlicht konnte ich erkennen, daß die Schneefläche zwischen meinem Standort und der Stelle, wo die Gestalt gestanden hatte, völlig unberührt war. Wäre sie kein körperloses Wesen, hätte sie nicht dorthin gelangen können, ohne Spuren im Schnee zu hinterlassen.
    Ich wollte weg, aber es erschien mir undenkbar, zu Austins Haus zurückzukehren. Ich konnte den Gedanken, mich in einem geschlossenen Raum aufzuhalten, nicht ertragen, schon gar nicht in diesem alten Gemäuer, das mir jetzt voller höhnischer Schatten und flüsternder Stimmen zu sein schien, die im Knarren der alten Balken mitstöhnten. Ich hastete an der Kathedrale entlang in die entgegengesetzte Richtung, ging durch das Tor und fand mich in der ausgestorbenen High Street wieder. Ich schritt schnell aus – wohin der Zufall mich führte. Wie lange ich durch die schlafenden Straßen irrte,

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