Die schwarze Kathedrale
der er diese schrecklichen Worte äußerte.
»Aber wenn man dieses Prinzip erst einmal akzeptiert, kann es unendlich ausgedehnt werden«, protestierte ich. »Es gibt immer eine Möglichkeit, zu behaupten, der Tod eines Individuums sei zum Wohl vieler notwendig gewesen.«
»Und manchmal ist das auch zutreffend«, entgegnete der alte Mann ruhig.
Diese Bemerkung überraschte mich. Er schien zu begreifen, welche Wirkung seine Behauptung auf mich hatte.
»Wenn man ein sicheres, bequemes Leben am Ende des neunzehnten Jahrhunderts führt, fällt es vermutlich schwer, sich vorzustellen, wie es ist, wenn man derart entschlossen handeln muß«, erklärte er. »Wenn Sie in der Situation gewesen wären, in der dieser junge Offizier sich damals befand, Dr. Courtine, hätten Sie den Dingen ihren Lauf gelassen und die Stadt für Ihre eigene Sache verloren? Oder hätten Sie alles auf eine Karte gesetzt?«
»Das kann ich nicht sagen.«
»Auf solche Weise alles zu wagen, das ist das unvergleichlich große Abenteuer des Lebens. Nur so weiß man, daß man lebt. Ohne das ist man tot, ohne je begraben worden zu sein.«
Er hielt die Augen immer noch fest auf Austin gerichtet, der langsam nickte.
»Hat Hollingrake denn durchschaut, an was für einem Komplott er da teilnehmen sollte?« fragte ich.
Der alte Herr drehte sich um und sah mich begeistert an, als ob ich eine neue Variante des Spiels erfunden hätte. Dann wandte er sich wieder um und sagte zu meinem Freund: »Was sagen Sie dazu, Fickling? Sie spielen ihn, also sollten Sie besser wissen, was damals in ihm vorging, als Courtine und ich. Wußten Sie, daß das, worin Sie verwickelt werden sollten, mit der Abschlachtung eines Menschen enden würde?«
Mit bleierner Stimme antwortete Austin: »Ja, das habe ich gewußt, wenngleich ich mir eingeredet habe, ich wisse es nicht.«
»Dann spielen Sie gefälligst die Rolle, die Sie übernommen haben, Mann!« grollte der alte Herr. Im nächsten Augenblick war er wieder der junge Offizier und sagte voller Verachtung: »Sie brauchen nur zu tun, was ich Ihnen sage. Mit der Tat selbst müssen Sie nichts zu schaffen haben.«
Austin starrte ihn an wie das Kaninchen die Schlange. »So oder so«, fuhr der junge Offizier fort, »seine Rechnung muß beglichen werden.«
»Seine Rechnung muß beglichen werden«, wiederholte ich und sah Austin an, der noch immer ganz im Bann seines Peinigers stand. »Das ist ein seltsamer Satz.«
Austin nickte langsam mit dem Kopf. »Was für einen Plan haben Sie sich ausgedacht?« wollte ich wissen. Beide drehten sich um und sahen mich an.
»O nein«, rief der alte Herr. »Zunächst müssen Sie noch im dunkeln gehalten werden. Aber ich verspreche Ihnen, daß Sie es sehr bald herausfinden werden!«
In diesem Augenblick gab die hohe Großvateruhr in der Ecke ein Geräusch von sich, als ob sie sich räuspern wolle, und schlug dann gewichtig das erste Viertel.
Unser Gastgeber sah Austin an. »Kann das stimmen?« rief Austin aus und zog seine Uhr aus der Tasche.
»Nein, diese Uhr geht vor«, erklärte Mr. Stonex. »Ich weiß nicht, warum, denn alle anderen Uhren im Haus sind sehr genau.«
Austin wandte sich an mich. »Was meinst du, wie spät es ist?«
Ich blickte auf meine Uhr. »Ein oder zwei Minuten vor fünf.«
»So spät ist es auch auf meiner Uhr.« Er wandte sich dem alten Herrn zu. »Ich möchte nicht den ganzen Abendgottesdienst versäumen. Courtine hat die Orgel noch nicht gehört, und dies ist seine letzte Gelegenheit, weil sie von heute abend an gesperrt wird.«
»Dann können Sie um halb sechs hier aufbrechen und immer noch vor Schluß hinkommen«, erwiderte unser Gastgeber. Darauf hob er die Hand und senkte die Stimme. »Es ist halb elf an jenem schicksalhaften Morgen. Ich bin der Küchenjunge.« Bei diesen Worten schien er zusammenzuschrumpfen. Er wurde noch jünger als der Offizier, den er soeben gespielt hatte, und in seine Augen trat ein einfältiger, verschreckter Ausdruck.
Plötzlich trommelte er mit den Fäusten auf den Tisch, so daß das Geschirr klirrte. »Ohne jede Vorwarnung wird plötzlich gegen die Tür zur Straße gehämmert.« Als Küchenjunge fuhr er zusammen und schlich ängstlich zum Eingang.
Dort angekommen straffte er den Rücken und war wieder der Offizier. Mein Interesse galt inzwischen mehr dem Erzähler als der Geschichte, die er erzählte, denn ich konnte diesen faszinierend wandlungsfähigen Mann nicht mit dem einsamen Geizhals in Einklang bringen, den Quitregard mir
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