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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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schließlich schon viele Jahre hier. Aber vielleicht betrachtete er ihn ja nach höchstens zwanzig Jahren in der Stadt noch immer als Neuling. Es war auch nicht ganz leicht für mich zu beurteilen, wie gut die beiden sich kannten, denn Austin schien den alten Herrn mit Ehrfurcht, wenn nicht gar mit Angst zu betrachten.
    »Ein Held ist er?« fragte ich. »Die Rolle, die er beim Tod des Dekans gespielt hat, ist doch in jedem Fall ziemlich abscheulich.«
    »Er hat kühn und entschlossen gehandelt, so wie es in einer Krisensituation notwendig ist«, erwiderte unser Gastgeber. Und dann rief er aus: »Aber wir werden das Spiel jetzt noch einmal spielen, und dann sehen Sie es selbst!«
    »Wie meinen Sie das?« fragte Austin.
    »Wir werden die Geschichte mit verteilten Rollen nachspielen.« Er wandte sich an mich. »Sie sind Historiker. Sie können die trockenen Knochen der Vergangenheit mit Fleisch versehen.«
    »Historiker sollen aber ganz gewiß nicht auf ihre Phantasie zurückgreifen. Die Phantasie ist ihnen eindeutig ein Hindernis bei der Arbeit.«
    »Ich glaube, du hast genug Phantasie, um ein ganzes College voller Historiker außer Gefecht zu setzen«, sagte Austin ziemlich bitter.
    »Dann sind Sie für das Spiel ja bestens geeignet«, warf unser Gastgeber ein. Er hatte sich mitten im Zimmer aufgestellt. »Stellen Sie sich also vor, es sei der Morgen des zehnten September im Jahre des Herrn 1643«, begann er theatralisch. »Dekan Freeth hält sich in seinem Studierzimmer nebenan auf. Der Küchenjunge schrubbt Töpfe in eben diesem Raum. Zwei Soldaten des Parlaments sitzen in der Küche, denn der Dekan ist in seinem eigenen Haus unter Arrest gestellt worden. Es ist halb elf, und der Dekan hat nicht einmal mehr eine Stunde zu leben. Er weiß es zwar noch nicht, aber sein Tod ist beschlossene Sache.«
    »Lieber Gott!« rief ich aus. »Dann glauben Sie also, daß es kein unglücklicher Zufall war?« Ich erinnerte mich, daß der alte Herr schon bei unserem ersten Zusammentreffen am Vortag von der »Exekution« des Dekans gesprochen hatte.
    »Davon bin ich fest überzeugt«, erwiderte unser Gastgeber, schenkte für jeden von uns Tee ein und reichte ihn herum. »Aber urteilen Sie selbst. Ich möchte, daß Sie sich die Situation vorstellen. Erst drei Wochen zuvor hatte eine Armee des Parlaments die Stadt erreicht und begonnen, sie zu belagern. Es herrschten Angst und Schrecken. Vielen der wohlhabenden Bürger gelang die Flucht, darunter auch der Frau und den neun Kindern des Dekans Freeth. Sie waren von ihm in Begleitung einiger Dienstboten an einen sicheren Ort gebracht worden, in ein schönes Herrenhaus, einige Meilen von Thurchester entfernt.«
    »Um welches er das Domkapitel betrogen hatte!«
    »Ach, Sie kennen diese Geschichte? Dann wissen Sie ja auch, was für ein geldgieriger Halunke er war.« Mr. Stonex stand noch immer neben dem Tisch und fügte hinzu: »Bitte nehmen Sie sich doch ein Stück Kuchen.«
    Ich dankte ihm und begann, ein paar Scheiben von dem Schokoladenkuchen für Austin und mich abzuschneiden. Der alte Herr fuhr fort: »Die Mehrzahl der Stadtbewohner, die keine Dienstboten hatten, die sie bei ihrem Hab und Gut lassen konnten, mußten bei ihrem Eigentum bleiben – sofern sie es nicht sowieso schon verloren hatten –, denn im Zuge der Belagerung waren viele Häuser beschädigt oder zerstört worden. Die Kathedrale selbst hatte man mit Kanonen beschossen, und einige der Gebäude am Domplatz waren abgebrannt. Sechs Tage zuvor hatte der Kommandant der Stadt unter der Bedingung kapituliert, daß die Verteidiger abziehen durften und die Stadt nicht geplündert wurde.«
    Mr. Stonex ging zur Anrichte hinüber, wo die Zuckerdose und das Milchkännchen standen. Ich bemerkte, daß er sie noch einmal hinstellte und geistesabwesend mit einem Geschirrtuch die Schrift auf der Tafel wegwischte. Danach stellte er Zuckerdose und Milchkännchen auf den Eßtisch, so daß Austin und ich uns bedienen konnten. Dann begab er sich wieder zu der mit Dokumenten beladenen Kommode und begann, die Papiere durchzusehen, wobei er uns halb zugewandt war und ohne Pause weiterredete. »Die Royalisten entkamen, aber die Parlamentstruppen hielten ihr Wort nicht, und viele Gebäude in der Stadt wurden geplündert und niedergebrannt. Am sechsten September zog die Belagerungsarmee weiter und ließ nur eine kleine Garnison mit einem jungen Offizier als Kommandeur zurück. Der bin ich jetzt.« Damit richtete er sich gerade auf, sein Gesicht

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