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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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nahm den Ausdruck jugendlicher Entschlossenheit an, und vor meinen Augen verwandelte sich der alte Herr in einen fünfundzwanzigjährigen Offizier, der über seine nächsten Maßnahmen nachdenkt. »Ich befinde mich in einer verzweifelten Lage. Wie soll eine Handvoll Soldaten sechstausend wütende und zu allem entschlossene Bürger in Zaum halten? Nur durch deren eigenen guten Willen oder, wenn das nicht möglich ist, durch Einschüchterung. Der gute Wille der Leute wurde unwiederbringlich verspielt. Und jetzt wird die Situation noch schwieriger: Vor drei Tagen, am siebten September, erreichte die Stadt das Gerücht, daß eine royalistische Armee im Anmarsch sei. Die Bürger waren begeistert. Die Rettung nahte. Eine Menschenmenge versammelte sich auf dem Marktplatz, und ich mußte sie zerstreuen, indem ich meinen Soldaten befahl, über ihre Köpfe hinwegzuschießen. Inzwischen ist die Stimmung der Leute noch schlechter geworden.«
    Ich hörte ihm zu und nahm mir einen der kleinen Kuchen. Dabei fiel mir auf, daß Austin weder Kuchen noch Brot angerührt hatte.
    »Am nächsten Tag hielt der Dekan, ein notorischer Parteigänger des Königs, in der Kathedrale eine Predigt, in der er die Bürger zum Aufstand aufstachelte. Vor der Kathedrale rottete sich eine Menschenmenge zusammen, und wieder mußte ich meinen Soldaten befehlen, zu schießen. Diesmal wurde eine Frau von einer verirrten Kugel verletzt, die zu tief abgefeuert worden war. Die Situation war nun äußerst gefährlich. Weil ich befürchtete, daß der Dekan tatsächlich einen Aufstand anzetteln könnte, beschloß ich, ihn in seinem eigenen Haus unter Arrest zu stellen und von zwei Soldaten bewachen zu lassen. Am neunten September kam ich hierher, um ihm meinen Entschluß mitzuteilen.«
    »Aber der Mann war Geistlicher«, wandte ich ein. »Selbst wenn er ein geiziger und ehrloser Intrigant war, hätte man doch sein geistliches Gewand respektieren müssen.«
    Der alte Herr hörte kurzfristig auf, seine Rolle zu spielen, und sagte streng zu mir: »Sie sind Freeth.«
    »Entschuldigen Sie. Was meinen Sie damit?«
    »Das ist Ihre Rolle. Also reden Sie nicht so über ihn, und schon gar nicht in solchen Ausdrücken. Stehen Sie auf und verteidigen Sie sich.« Plötzlich war er wieder der junge Offizier. »Herr Dekan, Sie dürfen dieses Haus nicht ohne meine Erlaubnis verlassen.«
    »Ich bin ein Würdenträger der Kirche«, erwiderte ich selbstherrlich. »Sie schulden mir Respekt.« Und im Bewußtsein meiner eigenen Großartigkeit fügte ich noch hinzu: »Junger Mann.«
    »Sie sind ein Narr, mein Herr«, sagte mein Gastgeber streng, und ich fühlte, wie ich rot wurde. »Und noch dazu ein gewissenloser Narr, denn Sie mischen sich aus Eigennutz in die Politik ein und setzen das Leben vieler Menschen aufs Spiel.«
    »Unsinn«, gab ich wenig überzeugend zurück.
    Einen Augenblick lang wurde der Offizier wieder zu Mr. Stonex, der die Stirn runzelte und mir bedeutete, daß ich meine Rolle besser spielen müsse. In der nächsten Sekunde war er schon wieder ganz Offizier: »Sie sind ein Verräter, Sir. Sie hoffen, mit einem Bischofssitz belohnt zu werden, wenn Sie behilflich sind, die Stadt für den König zurückzuerobern. Sie tun nichts, was nicht in Ihrem eigenen, persönlichen Interesse liegt.« Nach dieser Rede wandte er sich ab und musterte ein Dokument, das auf der Kommode lag.
    »Haben Sie irgendwelche Beweise für diese Behauptung?« fragte ich indigniert. Ich fühlte mich seltsam getrieben, den Mann zu verteidigen.
    »Ihr früheres Verhalten«, antwortete er und warf das Dokument zur Seite. »Sie sind ein geldgieriger und ehrgeiziger Mann von geringen Fähigkeiten. Sie sind nur aufgestiegen, weil Sie vor den Mächtigen kriechen und die Schwachen unterdrücken. Sie haben die Stiftung ausgeplündert und sich die Einkünfte der Chorschule widerrechtlich angeeignet.«
    »Das bestreite ich! Ich habe das Rittergut in meinen Besitz genommen, um es davor zu bewahren, von Ihren Freunden im Parlament konfisziert zu werden.«
    »Pah! Wenn Sie das wirklich glauben, beweist das nur, wie leicht es Ihnen fällt, Ihre übelsten Taten vor sich zu rechtfertigen, und das wiederum zeigt, wie durch und durch gewissenlos Sie sind. Wollen Sie etwa behaupten, Sie hätten nie einen schändlichen, ehrgeizigen, selbstgefälligen Gedanken gehabt? Daß Sie sich niemals etwas aneignen wollten, das Ihnen nicht zustand?« Er sah mich mit solcher Intensität an, daß ich plötzlich nicht mehr wußte,

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