Die schwarze Schatulle
spürte, wie mir die Angst den Magen umdrehte. Nicht nur meine Schatulle war weg, auch Benji war verschwunden, und die beiden Dinge mussten etwas miteinander zu tun haben. Nicht weil er mir die Schatulle geschenkt hatte, sondern weil beide am gleichen Tag verschwunden waren.
Ich sah Joli an, dass sie Mitleid mit mir hatte, und wusste nicht, was ich machen sollte. Am liebsten hätte ich geweint, aber ich nahm mich zusammen. Ich saß da und schwieg. Auch sie ging zu ihrem Platz zurück, setzte sich und wartete. Vielleicht fühlte sie, dass ich noch nichts sagte, weil ich Angst hatte, sonst zu weinen, jedenfalls wartete sie geduldig. Auch wegen solcher Sachen habe ich sie gern, sie weiß immer, wie man sich verhält. Ich glaube, sie weiß immer, wie der andere sich fühlt, und richtet sich danach. Ich glaube, das ist eine Eigenschaft, die nur wenige haben. Wir schwiegen also beide. Vielleicht sollte ich mich damit zufrieden geben, dass wir Freunde sind, dachte ich, schließlich ist sie nicht mit jedem befreundet, dazu ist sie zu schüchtern. Vielleicht sollte ich mich wirklich damit zufrieden geben und nicht den ganzen Tag überlegen, wie ich ihr zeigen könnte, was ich für sie fühle. Aber so schnell gab ich nicht auf. Nicht dass ich etwas zu ihr sagte, dafür genierte ich mich zu sehr, ich hatte noch zu keinem Menschen ein Wort gesagt. Und eigentlich war ich, ganz tief innen, sowieso sicher, dass nichts daraus würde, sie hatte ja Nimrod. Und was bin ich schon gegen Nimrod? Abgesehen von anderen Dingen sehe ich vor allem nicht so gut aus wie er und bin auch nicht so groß. Und den Kopf kann ich auch nicht so zurückwerfen wie er. Außerdem bin ich nicht der King der Jahrgangsstufe und noch nicht mal bei den Pfadfindern. Und ich war noch nie im Ausland. Und mein Vater ist kein wichtiger Mann wie Nimrods Vater, der Professor von der Universität, vor dem unsere Direktorin katzbuckelt, als wäre er der Regierungspräsident.
Nach einer Weile sagte Joli: »Vielleicht hat jemand die Schatulle aus Versehen mitgenommen? Bestimmt taucht sie wieder auf, du wirst schon sehen.«
Ich nahm nicht an, dass sie das wirklich glaubte, sie wollte mir nur ein bisschen Mut machen. Aber ich nickte und senkte den Kopf, um die Tränen in meinen Augen zu verbergen.
»Du siehst immer alles in düsteren Farben«, sagte Joli. Manchmal spricht sie wie aus Büchern, in einer feierlichen Sprache. Sie sagte nicht: Das sind doch nur Buntstifte, da brauchst du doch nicht zu weinen. Aber ich sagte es innerlich immer wieder, damit ich ja nicht anfing. Ich fand es schlimm. Jemand hatte mir etwas Böses angetan, damit es mir schlecht ging. Und es ging mir schlecht. Aber – wenn es mir, in meinem Alter, wegen so etwas schlecht ging, wie musste sich dann erst Benji fühlen?
»Die Schatulle ist doch so groß«, sagte ich zu Joli. »Wie kann sie jemand genommen haben, ohne dass es einer bemerkt hat?«
Sie runzelte die Stirn beim Nachdenken. »Vielleicht, als wir im Biologiesaal waren? Oder in der großen Pause? Vielleicht ist jemand aus einer anderen Klasse reingekommen …« Sie schwieg plötzlich. Vielleicht dachte sie daran, dass man uns eingeschärft hatte, unsere Schultaschen mitzunehmen und nichts Wertvolles unbeaufsichtigt herumliegen zu lassen wegen der Diebstähle. Schon seit einem halben Jahr wurde bei uns Geld geklaut, aus Schultaschen, aus Jacken und so, aber ich brachte meine Schatulle nicht mit den Gelddiebstählen in Verbindung. In diesem Moment war ich überzeugt, dass es eine Strafe für mich war. Vielleicht, weil ich mit ihr angegeben und sie mit in die Schule genommen hatte. Oder weil ich nicht gut auf sie aufgepasst hatte. Oder es war eine Strafe für etwas, was ich mit Benji getan hatte, auch wenn ich jetzt nicht wusste, was. Plötzlich kam ich auf die Idee, dass es auch der kleine Malul mit seinen Freunden gewesen sein könnte, um sich an mir zu rächen. Ich fragte Joli, ob sie Kinder aus der Sechsten bei uns gesehen hätte, sie verneinte. Da beschloss ich, das Gespräch mit dem großen Malul nicht länger zu verschieben, sondern ihn gleich in der nächsten Pause aufzusuchen. Wenn Streichholz vor mir mit ihm redet, überlegte ich, muss der ihn als großer Bruder beschützen. Aber wenn ich vorher komme, nimmt er sich Streichholz vor und bekommt vielleicht sogar heraus, wer meine Schatulle geklaut hat.
Man hätte denken können – und Joli tat das wohl auch –, dass es mir nur um meine Stifte Leid tat. Aber es war mehr als das.
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