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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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werden, um seiner Arbeit nachzukommen. Ich glaubte aus seiner Antwort herauszuhören, dass Calendar schon vor Tagesanbruch hier gewesen, dann aber wieder nach Hause gegangen sei. Ich zögerte, ihn zu fragen, wo dieses zu Hause sei, zum einen, weil ich fürchtete, als Antwort »Sempre dritto!« zu bekommen, zum anderen, weil ich dachte, er würde misstrauisch werden und zu erfahren wünschen, was ich von dem Polizisten wollte. Am meisten jedoch zögerte ich, weil es mir wie ein ungehöriger Schritt erschien, Calendar in seinem Heim aufzusuchen. Es blieb jedoch kein anderer Ausweg, wenn ich nicht warten wollte, bis er zufällig wieder hier auftauchte.
    Der Staatsanwalt war entweder noch zu verschlafen, um argwöhnisch zu werden, oder er dachte sich nichts dabei. Er beschrieb mir einen Weg, den ich nur halb verstand, doch der Name San Giovanni in Brágora kam darin vor und, auf meine Nachfrage, ein campo gleichen Namens. Schließlich bekam ich mit, dass Calendar im sestiere Castello wohnte, und ich fühlte mich genügend gerüstet, den Weg dorthin anzutreten.
    Ich war nicht überrascht, festzustellen, dass Paolo Calendar und seine Familie in einer Gegend der kleinen Leute lebten. Als ich von weitem die Kogge Barberros erblickte, bog ich von der Riva degli Schiavoni in eine Gasse ab; erst nachdem ich sie betreten hatte, stellte ich fest, dass es diejenige war, in die ich vor Fulvio und seinen Kumpanen geflohen war. Die Brücke über den rio , in dem ich Fulvio zu einem unfreiwilligen Bad verholfen hatte, führte direkt auf den Campo in Brágora, und ich empfand es als Ironie, dass Barberros Männer mich nur wenige Schritte von der Wohnung des einzigen Polizisten, den ich in Venedig näher kannte, beinahe erledigt hätten. Ich fragte mich, ob Barberro wusste, wie nahe sein Schiff am Haus seines Feindes lag, und hoffte für Calendar und seine Familie, dass dem nicht so war.
    Die Kirche San Giovanni in Brágora war schmucklos; eine dreiteilige, aus Backsteinen gemauerte Front mit geschwungenem Staffelgiebel, einer runden Fensterrose über einer mit weißem Marmor gefassten Eingangspforte und zwei hohen, spitzbögigen Fenstern links und rechts davon. Die Lisenen, die die Front dreiteilten, waren der einzige Schmuck, den der Baumeister der Fassade verliehen hatte. Sie erhob sich nahtlos aus den umgebenden Häuserfronten, und auch ihr Turm, ein breiter, flacher campanile mit drei Glocken und einem strengen Architrav, ragte kaum über die Hausdächer empor. Das untere Drittel der Kirchenfassade lag im Schlagschatten der Häuser, nur der obere Abschnitt des Mittelgiebels mit dem Tabernakel und der Turm dahinter lagen im Sonnenlicht. An der Nordseite des campo stand der Palast eines begüterten Patriziers, aber die anderen Gebäude waren niedrig, ohne jede Verzierung und vom Zahn der Zeit bereits weitgehend angenagt. Der Putz war nur in Höhe der Obergeschosse noch intakt, ansonsten entblößte er die leichten Ziegel darunter. Es wirkte nicht schmutzig oder vernachlässigt; doch nach der Pracht im morgendlichen Licht, die ich auf dem Weg hierher durchschritten hatte, drängte sich der Eindruck auf, dass die Menschen hier bei allem Rackern und Arbeiten doch stets auf der Verliererseite stehen würden.
    Ich war ratlos, welches Haus das von Calendar sein konnte, doch als ich einer breiteren Gasse in Richtung Osten folgte, sah ich ein Gebäude und wusste, dass ich hier richtig war.
    Es wirkte wie eine niedrige, lang gezogene Festung. Von der Gasse weg führten alle paar Mannslängen breite, hohe Bogenöffnungen in einen Innenhof. Diese konnten durch Tore verschlossen werden, doch jetzt hatte man sie geöffnet. Die lang gestreckte Fassade zeigte als einzige Abwechslung symmetrisch angebrachte kleine Fenster mit bunt bemalten Flügeln. Selbst auf dem flach geneigten Dach erhoben sich noch Mansardenfenster. Der Raum, den das Bauwerk bot, war bis auf den letzten Meter ausgenutzt. Als ich durch eines der Tore trat, sah ich, dass der Vergleich mit einer Festung nicht unangebracht war: Der Durchgang war tief und finster wie im Torbau einer Burg, und die Wohneinheiten dahinter waren vom äußeren Bau umschlossen wie von einer Mauer. Die Wohnungen bildeten wiederum ein einziges Gebäude aus hellbraunen Ziegeln, an jeder Flanke ein halbes Dutzend Eingänge und drei Stockwerke hoch. Hätte man mit dem Blick eines Vogels nach unten geschaut, würde man erkannt haben, dass das gesamte Bauwerk aus zwei scheinbar voneinander unabhängigen Einheiten

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