Die schwarzen Wasser von San Marco
bestand – dem äußeren Ring mit seinen wuchtigen Toren und den Mansardenfenstern im Dach sowie dem zentralen Wohnbau, der mitten darin stand, vom Außenring nur durch einen engen, gepflasterten Rundweg getrennt. Ich war an einer der Ecken des Innenbaus durch den Torgang gekommen: Am jenseitigen Ende des Rundwegs sah ich einen gleich gebautenTorgang, der wieder nach draußen in die dort liegende calle führte.
Das Innere des Bauwerks lag im Schatten; ich richtete den Blick nach oben und gewahrte ein wirres Spinnennetz aus Wäscheleinen, an denen dicht gereiht Wäschestücke zum Bleichen und Trocknen hingen. Wo ein Stück Himmel dazwischen zu sehen war, ragte ein wuchtiger, fleckig weiß gestrichener Kamin davor auf. Auf dem engen Rundweg hielt sich bis auf zwei Frauen, die aus einer Zisterne Wasser schöpften und mich anstarrten, niemand auf. Wer hier wohnte, hatte sich in der Mehrzahl bereits zur Arbeit begeben oder lag krank in seinem Bett. Von dem üblichen Müll, der aus den Fenstern gekippt wurde, abgesehen, war das Pflaster sauber und die Anlage gut in Schuss.
Ich drehte mich einmal um mich selbst. Wenn ich mich nicht verschätzt hatte, lebten hier mehr als siebzig Familien. Die Zugänge zu den Wohnungen im ersten und zweiten Geschoss schienen über Treppenhäuser zu führen, die hinter den Eingangstüren in die Höhe strebten und den engen Wohnraum hinter den Mauern noch verkleinerten. Ich schritt zu den beiden Frauen hinüber, die ihre Bottiche am Brunnenrand abgestellt hatten und mich musterten. Ihre Blicke waren neugierig und frei von Argwohn. Ich lächelte sie an, und sie nickten mir zu.
»Ich suche nach Paolo Calendar, dem Polizisten«, sagte ich holprig auf Venezianisch.
Sie ließen ihre Blicke über mich wandern. In meinen teuren florentinischen Stoffen mochte ich wirken wie ein reicher Mann, der die Dienste des Polizisten suchte, oder wie ein Behördenvertreter, der einen Auftrag überbrachte. Eine von ihnen zeigte schließlich auf ein Fenster im zweiten Obergeschoss. Ich bedankte mich und war für einen kurzen Moment unschlüssig, ob ich ihnen Geld geben sollte, aber sie hatten sich bereits abgewandt und ihre Bottiche aufgenommen. Sie mochten in ärmlichen Verhältnissen leben, aber auf Almosen waren sie nicht angewiesen. Ich ging zur Eingangstür hinüber und fühlte mich plötzlich unwohl in meiner Haut.
Aus Calendars Wohnung war kein Laut zu hören. Ich hob die Faust und klopfte an die Tür, und als ich keine Antwort vernahm, trat ich mit der üblichen Verrenkung ein. Es schien, als seien die Türöffnungen hier noch schmaler als anderswo.
Die Wohnung bestand aus einem großen Raum, dessen Licht von dem kleinen Fenster in der Außenfassade kam. In der hintersten Ecke, neben dem Fenster, fand sich ein Herd mit einem Rauchabzug darüber. Calendar hatte einen mächtigen Tisch mit Stühlen davor platziert, eines der wenigen Zeichen, dass er, bevor er in Ungnade gefallen war, besser gelebt hatte. Zwei Kinder saßen an dem Tisch und blickten mich überrascht an. Die rechte Wand des Raumes war von drei Betten belegt, die nebeneinander standen: ein sehr breites, dessen typische Verkleidung aus Truhen und Rahmenwerk man abgebaut hatte, damit es Platz fand, und zwei kleinere, die so aussahen, als seien sie aus der Verkleidung des großen Bettes gezimmert worden. Eines der Betten war belegt: Ein Junge lag darin und wurde von einer Frau aus einer Schüssel gefüttert, während ein Mann daneben saß und dem Jungen das Haar aus der Stirn strich.
Die beiden Erwachsenen sahen auf. Calendars Gattin war eine blonde, erschöpft aussehende Frau mit tiefen Falten um die Mundwinkel und einem grauen Gesicht, das ansprechend gewesen sein musste, bevor die Verbitterung sich darin breit gemacht hatte. Calendar stand auf und trat auf mich zu. Sein Gesicht zeigte keine Überraschung, aber auch kein Willkommen.
»Tut mir Leid, dass ich Sie in Ihrem Zuhause aufsuche«, sagte ich. »Aber ich habe etwas erfahren, das Sie unbedingt wissen müssen.«
»Und das keine Zeit hatte zu warten, bis ich im Dogenpalast bin.«
»Sie waren heute schon dort.«
Seine Augen verengten sich kurz, dann zuckte er mit den Schultern. Er winkte mir zu, einzutreten. Die Kinder am Tisch sahen mich scheu an und pickten verlegen in den Schüsseln herum, die vor ihnen standen. Ich roch frisch gekochten Haferbrei. Ich zwinkerte ihnen zu, doch sie reagierten nicht.
»Setzen Sie sich«, sagte Calendar. Ich nahm auf einem der Stühle Platz.
Weitere Kostenlose Bücher