Die schwarzen Wasser von San Marco
tun wie wir anderen, aber er war derjenige gewesen, der es gesagt hatte. Als er die Faust öffnete, fiel ein lebloser Federbalg heraus. Wir wussten alle, dass er das Vernünftige getan hatte; dennoch mieden wir ihn ein paar Tage lang, als sei er ein Mörder. Während dieser Tage fragte ich mich ständig, wie es sich wohl angefühlt haben mochte, das Leben aus dem Vögelchen herauszudrücken. Ich bin froh, dass ich bis heute keine Mühe hatte, der Versuchung zu widerstehen und es auszuprobieren.«
»Wo ist Caterina?«, fragte ich ihn.
»Als Sie mich das letzte Mal um eine Auskunft baten, konnte ich nur vage Angaben machen. Sie haben mich deswegen sogar ein wenig auf den Arm genommen. Erinnern Sie sich?«
Ich nickte.
»Nun, um ehrlich zu sein, fühlte ich mich erheblich in meiner Ehre gekränkt, etwas nur oberflächlich weiterplaudern zu können, was ich vom Hörensagen wusste. Ich habe daher auf eigene Faust nachgeforscht.«
»Es ging um Rara de Jadra und ihr Waisenhaus.«
»So ist es.«
»Und was hast du herausgefunden?«
»Nichts Neues. Die Frau unterhält ein Waisenhaus für junge Mädchen, die sie – unterstützt von wohlhabenden Geldgebern – aus der Sklaverei freikauft. Jeden Abend geht sie in die Vespermette in San Simeòn Propheta, und an jedem Feiertag spendet sie ein paar Münzen für die Bedürftigen des Sprengels. Der Priester würde ihr Porträt auf eine Ikone der Gottesmutter malen lassen, wenn er sich einen Maler leisten könnte.«
»Warum bringst du dann die Sprache auf sie?«
Moro seufzte. Er öffnete vorsichtig seine Hände und spähte hinein. Das Küken darin hatte den Schnabel auf einen seiner Finger gebettet und schlief. Die Augen waren geschlossen. Sie hatten die gleichen gelben Ränder wie die Winkel des Schnabels. Der flaumige gelbe Körper erzitterte leicht, und Moro deckte die Hand wieder darüber. Ich spürte den Herzschlag des kleinen Dings, das in meinen Händen ruhte.
»Weil die wenigen Anständigen wirklich in einem Meer aus Schlechtigkeit schwimmen. Und weil sie darin sogar um ihr Leben paddeln müssen.«
»Du glaubst, Rara ist in Gefahr?«
»Ich habe Fiuzetta heute Nacht gefragt, ob sie mir Näheres über Rara mitteilen könnte. Ich war einfach neugierig, und immerhin hat Fiuzetta auch in diesem Haus gelebt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, im Grunde war sie froh, es jemandem erzählen zu können. Auch wenn sie die Kraft nicht aufbrachte, Ihnen ihr Herz auszuschütten.«
»Und was hat sie gesagt?«
»Sie sagte, dass Rara de Jadra das übelste Stück Dreck sei, das in dieser Stadt herumläuft.«
Moros Stimme hatte so beiläufig geklungen, als habe er mir geraten, in den Mittagsstunden nicht in die Sonne zu gehen. Ich starrte ihn an, zu überrascht, um irgendetwas entgegnen zu können.
»Das Waisenhaus ist keines«, sagte Moro.
»Die Mädchen …«
»Rara bildet sie aus. Fiuzetta hat mir erzählt, wie das funktioniert. Sie lassen die Mädchen, die sich weigern, mitzumachen, hungern und …«
»Ich weiß, wie ›das‹ funktioniert.«
Wir schwiegen eine Weile. Moro hielt seine Hände beschützend um das kleine, schlafende Leben darin gekrümmt und blickte in die Flamme der Öllampe.
»Fiuzetta hat das alles durchgemacht«, sagte ich schließlich.
Moro nickte. »Sie hat sich lange gewehrt. Sie haben sie lange hungern lassen.« Er wies mit einem Kopfnicken auf seine und meine Hände, in denen die Küken schliefen. »Sie haben die Leben der jungen Mädchen genauso im Griff wie wir beide diese Vögelchen. Und es fällt ihnen leicht, zuzudrücken.« Seine Augen waren jetzt schmale Schlitze, die im Schein des Öllämpchens glitzerten.
»Und Rara ist eine Bordellwirtin.«
»Rara ist eine Kreatur der Sklavenhändler und der perversen Patrizier. Messèr Porcospino kommt zu Rara und sagt: Diesmal möchte ich eine zarte, dunkelhäutige Elfe, kleine Titten und schmale Hüften und im Bett so gut, dass selbst meine Mätresse erröten würde, verstehst du? Und Rara sagt: Das kostet aber, verehrter messère . Geld spielt keine Rolle, du dalmatinische Hure, besorg nur die Ware, dann bekommst du schon deinen Schnitt.«
Moro schnaubte. »Und während Messèr Porcospino nach Hause humpeln muss, weil der dicke kleine Kerl zwischen seinen Beinen schon vor lauter Vorfreude gegen die Schamkapsel seiner Beinlinge drängelt, läuft Rara zu ihrem Verbündeten unter den Sklavenhändlern und gibt die Wünsche ihres Kunden weiter. Sie kennt ihn schon lange und vertraut ihm;
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