Die schwarzen Wasser von San Marco
»Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
»Mein Vater war Kanzleischreiber beim Bischof von Augsburg«, sagte ich. »Er hatte es immer eilig, in die Kanzlei zu kommen, deshalb fand das erste Essen unseres Tages stets schon im Morgengrauen statt. Es war mir immer zu früh für das kalte Fleisch oder die Suppe, ich konnte es nicht hinunterbringen. Deshalb bereitete mir meine Mutter Haferbrei zu. Unsere Küche duftete wie bei Ihnen nach dem heißen Brei.«
»Es ist noch was übrig«, erklärte Calendar verblüfft.
»Wenn es Ihnen keine Umstände macht …«
Calendar stand auf und holte eine hölzerne Schüssel. Über dem niedrig brennenden Feuer auf dem Herd hing ein kleiner Kessel. Calendar schöpfte Brei heraus und klatschte ihn in das Behältnis. Ich sah zu seiner Frau hinüber, die dem Jungen auf dem Bett einen Löffel in den Mund führte. Einiges lief daneben und über sein Kinn. Sie nahm einen Lappen, den sie bereitgelegt hatte, und wischte ihn sauber. Der Junge begann zu husten. Sie stellte die Schüssel ab und richtete ihn auf, um ihm auf den Rücken zu klopfen. Calendar beobachtete die Szene besorgt und stellte die Schale vor mir ab, ohne Acht zu geben. Er hatte den Löffel vergessen. Der Junge ließ sich wieder auf das Bett zurücksinken, und Calendars Frau nahm die Fütterung wieder auf. Calendar setzte sich mir gegenüber, sodass er das Bett im Blickfeld hatte. Eines der beiden Kinder am Tisch, ein Mädchen mit den dunklen Augen ihres Vaters und dem hellen Haar ihrer Mutter, betrachtete gespannt, wie ich es anstellen würde, ohne Löffel zu essen. Ich legte beide Hände neben die Schüssel.
»Ich weiß jetzt, wo Caterina ist«, sagte ich zu Calendar.
Er drehte den Kopf, um mich anzublicken. Ich hörte, wie seine Frau vom Bett aufstand und zum Herd trat, um den Rest des Breis aus der Schüssel in den Kessel zurückzuschütten. Sie sah mich über die Schulter an. Ich stand auf und verneigte mich kurz in ihre Richtung. Calendar murmelte etwas, das eine Vorstellung sein konnte. Sie wischte sich die Hände an ihrem Kittel ab und streckte mir eine entgegen, aber ihr Händedruck war flüchtig und geistesabwesend. Als ich mich wieder setzte, fing ich den Blick des kleinen Mädchens auf. Es machte eine drängende Kopfbewegung zu meiner Schüssel hin und hielt seinen eigenen Löffel hoch. Ich zuckte mit den Schultern und lächelte. Auf seinen Lippen erschien ein schwacher Widerhall davon.
»Und wo sollte das sein?«, fragte Calendar.
»Sie ist wieder dort, wo sie hergekommen ist. Bei Rara de Jadra.«
»Unmöglich. Das kann Chaldenbergen nicht riskieren. Wenn das Mädchen erzählt, was ihm zugestoßen ist …«
Calendars Tochter fasste plötzlich einen Entschluss. Sie steckte ihren Löffel in den Mund, leckte den Brei säuberlich ab und hielt ihn mir dann über die Tischplatte entgegen. Calendars Augen weiteten sich. Bevor er oder seine Frau reagieren konnten, nahm ich den Löffel, sagte »Tante grazie!« und tauchte ihn in meine Schüssel. Das Mädchen lächelte über das ganze Gesicht und zeigte vergnügt in meine Richtung.
Calendars Frau hob die Hand, um dem Mädchen auf den Scheitel zu klopfen. Ich schüttelte heftig den Kopf und begann, den Brei zu essen. Sie ließ die Hand wieder sinken und starrte mich verwirrt an. Von der Seite fing ich Calendars Blick auf. Das Mädchen beugte sich zu seinem Bruder hinüber, der mich ebenso unverwandt musterte wie sein Vater, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sie begannen zu kichern. Ich hielt den Löffel in die Höhe und kicherte mit.
»Was haben Sie heute Morgen schon im Dogenpalast getan?«, erkundigte ich mich bei Calendar. »Es kann kaum jemand dort gewesen sein, und von denen, die dort waren, kaum jemand wach.«
»Wach genug«, knurrte er.
»Sie haben versucht, Chaldenbergen verhaften zu lassen.«
»Es gibt nichts, wofür man ihn verhaften könnte.«
»Sie meinen, weil er unter dem Schutz des Fondaco steht? Letztlich ist es eine Entscheidung des Zunftrektors, wem er Asyl gewährt und wem nicht. Ich habe mit Falkenstein gesprochen, und er scheint anständig genug zu sein, um …«
»Es geht nicht um das Fondaco.«
Ich starrte Calendar an. »Dann hat consigliere Barbarigo …?«
Er beugte sich zu mir herüber, und ich konnte die mühsam unterdrückte Wut in seinem Gesicht sehen. Ich fragte mich plötzlich, ob sie mir und meinem unwillkommenen Eindringen galt und er bisher nur zu verblüfft gewesen war, um sie zu äußern.
»Ihr Landsmann hat nichts getan,
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