Die schwarzen Wasser von San Marco
wofür man ihn verhaften könnte. Haben Sie das jetzt verstanden?« Er lehnte sich zurück und schloss für einen Moment die Augen. »Wenn das Mädchen Eltern hätte, könnte man ihn belangen, sobald diese Anzeige wegen Notzucht erstatten würden. Sofern sie nicht lieber den Weg in die Verschwiegenheit als den in die öffentliche Schande suchen, was oft genug vorkommt. Aber da Caterina keine Eltern hat, ist das ohnehin nicht von Belang. Wäre das Mädchen ein Junge, wäre er wegen Sodomie dran – aber so …«
Seine Wut schien so plötzlich verraucht, wie sie gekommen war. Er war ein müder Mann, der zu viel gesehen hatte und wusste, dass der Kelch noch lange nicht leer war.
»Die beiden jungen Männer auf dem Fest …«
»Geben Sie’s auf«, sagte er.
»War es das, was man Ihnen heute Morgen im Dogenpalast mitgeteilt hat?«
»Das braucht man mir nicht mitzuteilen. Ich kenne die Gesetze. Und Sie kennen sie auch, also tun Sie nicht so überrascht. Das ist in Ihren freien Reichsstädten nicht anders als hier in den Republiken.«
»Ich frage mich, wieso Sie mir dann gestern geholfen haben«, erwiderte ich aufgebracht.
Calendar antwortete nicht sofort. »Wenn das Mädchen bei Rara ist, ist sie ja wieder in Sicherheit. Ich weiß nicht, was Sie noch wollen. Sollten Sie sich an Chaldenbergen rächen wollen, vergessen Sie’s!«
Ich legte den Löffel nieder und sah ihm in die Augen. »Paolo, sie ist alles andere als in Sicherheit.«
Er brummte etwas und sah mich missmutig an.
Ich stand auf. »Kommen Sie mit nach draußen. Was ich zu erzählen habe, soll nicht Ihre Wohnung beschmutzen.«
Er wirkte aufrichtig verblüfft. Schließlich richtete er sich auf und kam hinter dem Tisch hervor. Er strich den beiden Kindern über die Haare, dann murmelte er seiner Frau etwas zu. Während ich mit viel Augenzwinkern und Gegrinse meinen Löffel seiner ursprünglichen Besitzerin zurückgab, trat Calendar an das Bett, in dem der Junge lag.
Er mochte etwa dreizehn Jahre alt sein und war ein Ebenbild seines Vaters. Doch seinen Zügen fehlte etwas, und es war nicht das Alter oder der lauernde Argwohn, den das Erwachsenwerden in Paolo Calendars Gesicht gezeichnet hatten. Die Züge des Jungen waren vollkommen leer. Calendar strich ihm sanft über die Stirn, beugte sich zu ihm herab und küsste ihn. Der Junge blinzelte träge. Er reagierte weder auf die Berührung noch auf den Kuss. An seinem Kinn klebte noch immer ein antrocknender Breifleck. Calendar wischte ihn mit der Hand ab.
Ich wusste jetzt, warum der Junge sich nicht an den Unfall draußen in der Lagune erinnerte. Er würde sich nicht einmal an das erinnern, was vor fünf Minuten geschehen war. Calendar hatte seinen Sohn aus dem Wasser gezogen und ihm das Leben gerettet. Aber der Luftmangel und die Kälte des Wasser hatten ihren Tribut verlangt. Calendar hatte einen Körper zurückbekommen; die Seele des Kindes war unter Wasser geblieben.
»Gehen wir«, sagte der Polizist und trat vor die Tür, ohne mich anzusehen.
Die beiden Frauen waren verschwunden. Die Sonne hatte es mittlerweile über die Dächer geschafft und leuchtete den Rundweg aus. Der Tag versprach so heiß zu werden wie alle anderen.
»Sie mussten sich heute Morgen für Ihren Auftritt bei Chaldenbergen verantworten, habe ich Recht?«, fragte ich.
Calendar trat an den Brunnen und spähte hinunter.
»Barbarigo hat herausgefunden, dass Sie nicht der Abgesandte des genuesischen Botschafters sind.«
»Das muss ja nicht heißen, dass Sie sich dessen auch bewusst waren.«
»Halten Sie die Vertreter der venezianischen Republik für so beschränkt?«
»Hat er Ihnen gedroht?«
»Wenn er etwas Offizielles gegen mich unternimmt, dann gibt er zu, auf der Feier gewesen zu sein.« Calendar wandte sich von der Brunnenöffnung ab und sah mir ins Gesicht. »Wir haben uns gegenseitig in der Hand. Momentan. Sobald genug Zeit vergangen und Heinrich Chaldenbergen nur noch eine Zeile im Kontor des Fondaco dei Tedeschi ist, wird er mich erledigen.«
»Das tut mir Leid.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Wenn Sie wussten, dass Chaldenbergen nicht würde belangt werden können, warum sind Sie mir dann bis zu ihm gefolgt?«
»Sie wussten es doch im Grunde Ihres Herzens auch. Warum sind Sie dorthin gegangen?«
Ich schwieg. Er wandte sich ab und starrte wieder in den Brunnen hinunter. Ich dachte an das Kind, das in seiner Wohnung lag und nicht mehr Leben in sich zu haben schien als eine Pflanze. Vielleicht sah er in dem
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