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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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heraus und führte uns in die Gasse.
    Sie war eng und ungepflastert, und wenn das fehlende Dach nicht gewesen wäre, hätte man sich in einem Kellergewölbe wähnen können. Jana legte den Kopf an meine Schulter; über den schwachen Duft ihres Apfelparfüms roch ich schales Seewasser und faulende Fische – der Geruch jeder venezianischen Seitengasse. Vor uns lag eine der üblichen scharfen Abbiegungen, die einen bis zuletzt glauben ließen, man liefe in eine Sackgasse. Eine Hand voll Leute bog darum und kam uns mit verkniffenen Gesichtern entgegen, darunter zwei Frauen in der Kleidung von Bediensteten. Eine hielt sich die Hand vor den Mund und würgte; die andere stützte sie. Sie warfen uns einen hastigen Blick zu, bevor sie sich an uns vorbeidrängten. Ein Mann rief Marco etwas zu. Der Junge sah ihm erstaunt nach.
    »Was ist los?«
    »Sie sagen, sie holen die Polizei.«
    Jana regte sich. »Es geht wieder«, sagte sie schwach. »Stell mich auf den Boden.«
    Ich packte sie fester. »Ich habe in letzter Zeit nicht oft die Gelegenheit, dich im Arm zu halten«, erklärte ich und versuchte zu lächeln. Sie lächelte zurück.
    Nachdem wir der Gasse scharf nach links gefolgt waren, wurde sie ein wenig breiter und heller und wies ein Pflaster aus brüchigen Terrakottaziegeln in einem Fischgrätmuster auf. Das Gebäude zu unserer Rechten ragte zwei Stockwerke in die Höhe und zeigte uns einige wenige schmale Fenster, die mehr der Frischluftzufuhr dienten, als um Helligkeit in das Innere des Hauses zu lassen. Links der Gasse führte eine Mauer entlang. Vor uns umrahmte ein niedriger Torbogen den Glanz der Vormittagssonne und das Glitzern des Lichts auf dem Wasser eines Kanals; die Wasseroberfläche spiegelte Reflexe in die Gasse. Beim Torbogen drängte sich ein weiteres halbes Dutzend Menschen und deutete erregt ins Wasser. Marco blieb ratlos stehen. »Ich glaube, es ist jemand ins Wasser gefallen«, sagte er.
    Zwei der Männer vorn bückten sich und nahmen etwas aus den Händen einer oder mehrerer Personen, die sich draußen auf dem Kanal befinden mussten, in Empfang. Die anderen wichen zurück. Die beiden Männer schleiften eine reglose Gestalt über ein paar flache marmorne Stufen, die zum Wasser führten, und legten sie mit dem Gesicht nach unten auf den Boden, wo ihr das Wasser aus den Haaren und dem Hemd triefte; ich bemerkte erst nach einem Augenblick, dass es rot gefärbt war. Marco Manfridus riss die Augen auf. Ich stellte Jana auf den Boden und trat ohne lange nachzudenken nach vorn. Die Männer machten mir Platz.
    Jenseits des Torbogens verlief der Rio di San Polo. Die Gasse endete mit der für Venedig üblichen Plötzlichkeit; dass wenigstens Stufen zum Wasser hinunterführten, war ausschließlich den Anforderungen eines reibungslosen Entladens der Transportboote zu verdanken. Zur Linken schoben sich die hölzernen Stangen mit den an ihren Enden befestigten Wappenschildchen ins Blickfeld, die den Landungssteg eines Patrizierhauses anzeigten, und weit dahinter die Brücke, die sich bei der Kirche San Polo über den rio spannte. Rechterhand lief der kleine Kanal um eine Kurve und verschwand zwischen den Gebäuden. Schräg gegenüber sah ich einen kleinen Platz wie eine Mole, an deren Rand sich ebenfalls Menschen eingefunden hatten und neugierig herüberspähten.
    Die ansonsten stille Oberfläche des kleinen Kanals war aufgerührt und schwappte gegen die Stufen; das Wasser lief in obszönen roten Streifen daran herab. In einem erschreckend weiten Umkreis um die Stufen war das Wasser ebenfalls verfärbt. Ein flaches Boot, von einem angestrengt paddelnden Bootsführer auf der Stelle gehalten, schwankte gefährlich, als sich der zweite Mann im Boot herauslehnte und mit beiden Händen die Wasseroberfläche zerteilte. Der zweite Mann war bis zum Gürtel triefend nass. Das gerötete Wasser tropfte ihm aus den Haaren über das Gesicht. Er bekam etwas zu fassen und lehnte sich ächzend zurück, und ich sah zweierlei: Der Mann war Paolo Calendar, und er holte einen zweiten Körper an die Oberfläche.
    Die Zuschauer seufzten; die beiden, die schon zuvor geholfen hatten, streckten erneut die Hände aus. Der Bootsführer brachte das Boot mit einem Schlag längsseits zum Torbogen. Calendars Halsmuskeln traten hervor, als er versuchte, den Körper aus dem Wasser zu heben. Er schien schwerer zu sein als der erste. Die selbst ernannten Helfer hatten keine Lust, sich mehr als nötig mit dem blutigen Wasser zu beflecken. Ich sah die

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