Die schwarzen Wasser von San Marco
seine Handgelenke los, und er löste seinen Griff von meinem Wams. Einen Augenblick sahen wir uns an, jederzeit bereit, den anderen wieder am Kragen zu packen, aber die Aufwallung war bereits vorüber. Calendar strich mein Wams glatt und ließ die Hände dann sinken. Ich drehte mich um.
Maladente grinste mit seinen schwarz verfärbten Zähnen, als hätte er eine gelungene Vorstellung zweier Gaukler erlebt. Er zeigte auf mich und nuschelte etwas, das keinerlei Ähnlichkeit mit einer Sprache hatte, die ich verstand.
»Was hat er gesagt?«, fragte ich Calendar.
Calendar schaute mich mit offenem Mund an. »Fratellino will mit Ihnen sprechen.«
5
Maladente führte uns in das Elendsviertel zurück. Ich war nicht erstaunt, dass Fratellino sich dort versteckt gehalten hatte; wir wussten nichts über ihn, und es mochte sein, dass er sogar eine Art Familie besaß. Maladente tanzte vor uns her, sein Gebaren eine Mischung aus kindlichem Übermut und nervöser Fahrigkeit. Ich hatte ihn bisher jeweils nur kurz zu Gesicht bekommen. Auf dem langen Weg von Raras Haus hinter das Arsenal kam ich nicht umhin, seine zwanghaften Bewegungen zu bemerken. Er ging einige Zeit gerade, hüpfte dann plötzlich mit Wechselschritten, drehte sich um und schlenkerte mit den Armen, stolperte rückwärts und verfiel wieder in eine normale Gangart, bevor die vom Mangel ausgelösten Fehlfunktionen seines Körpers die dürren Gliedmaßen in einen anderen Tanzrhythmus zwangen. Es war nervtötend, ihm zuzusehen; und es war beklemmend, weil man wusste, dass dieser Junge verloren war, wenn sich seine Situation nicht bald drastisch verbesserte. In wenigen Jahren würde er ein nervöses Wrack sein, über seine Jahre hinaus vergreist und nur noch zu Kraftakten fähig, wenn er plötzlich überschnappte – dann würde er wie ein Berserker jeden in Stücke reißen, der ihm vermeintlich oder tatsächlich in die Quere kam. Noch steckte der Irrsinn lediglich in seinen Gliedern, doch er war schon seit langem auf dem Weg in seinen Verstand.
Ich warf einen Seitenblick zu Calendar hinüber, dessen versteinerte Miene mit den halb geschlossenen Augen wirkte, als hege er keinerlei Interesse an dem kaputten kleinen Kerl, der uns führte. Ich glaubte, ihn mittlerweile besser zu kennen; vor allem, nachdem ich gesehen hatte, was aus seinem ältesten Sohn geworden war.
Maladente brachte uns zu der Kirche, deren Priester ich das Honorar von Enrico Dandolo gespendet hatte. Wenn man den verwahrlosten Zustand der Kirche ignorierte, wirkte sie, als stünde sie in einer ganz normalen Umgebung und es wäre Messe: Der enge Innenraum war voller Menschen. Beim zweiten Blick stellte sich heraus, dass es sich um lauter Kinder handelte, viele Jungen und einige Mädchen, die sich zusammendrängten und jemanden in ihrer Mitte zu decken schienen. Der junge Priester stand vorn bei seinem Galeerenruder-Kruzifix und schien nicht zu wissen, was er von der Versammlung halten sollte. Als sein Blick auf mich fiel, weiteten sich seine Augen, und er faltete die Hände und segnete mich dann über die Köpfe der Kinder hinweg mit inbrünstiger Geste. Ich nickte ihm zu, peinlich berührt. Das Wesen, das sich bei meinem ersten Besuch hier halb aus seiner Decke geschält hatte, war verschwunden und seine Lumpen mit ihm; das Nest aus Stroh und Wollklumpen in der anderen Ecke befand sich nach wie vor an seinem Platz.
Maladente tänzelte zu seinen Kameraden, wirbelte herum und grinste. Er machte eine ausholende Geste, die er einem gezierten Stutzer oder einem Schauspieler abgesehen und bis zur Lächerlichkeit übertrieben hatte, und wies auf die Versammelten. Zwei Dutzend Augenpaare blickten uns schweigend an.
Calendar wies mit dem Kopf auf die Gruppe und beugte sich zu mir herüber. »In ihrer Mitte befindet sich der Junge«, knurrte er leise.
»Anzunehmen.«
Der Polizist betrachtete die Kinder mit schmalen Augen. Ich dachte daran, was er gesagt hatte, als ich ihn nach dem Katzenspiel hier getroffen hatte. Ich dachte an Maladente, der vor ihm ausgespuckt und ihn in die Hölle gewünscht hatte. Maladente hatte genau gewusst, welchem Beruf Calendar nachging, und ihn dafür gehasst.
»Wenn wir nicht tun, was sie von uns verlangen, werden wir ihn nie zu Gesicht bekommen. Und uns den Weg zu ihm hindurch freizukämpfen würde uns schlecht bekommen. Sie sehen aus wie Kinder, aber sie sind es nicht.«
»Sie sind Kinder«, entgegnete ich heftig.
Calendar blieb ruhig. »Sie haben mich nicht ausreden
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