Die schwarzen Wasser von San Marco
erzählt hat?«
Sie nickte stumm. Plötzlich hob sie den Kopf. Ich hatte erwartet, Tränen in ihren Augen zu sehen, aber stattdessen funkelten sie entschlossen.
»Ich habe erkannt, dass es mich noch mehr angeht als dich. Du bist zu Caterina gegangen. Ich bin zu den Gassenkindern gegangen und habe erklärt, was du und der milite getan haben.«
»Sein Name ist Paolo«, sagte ich und konnte einen Seitenblick auf Calendar nicht unterdrücken. Er reagierte mit einem resignierten Lächeln darauf. »Haben sie dir denn geglaubt?«
»Sie haben Raras Haus beobachtet. Was glauben Sie, woher der kleine Kerl dort so schnell gekommen ist?« Calendar wies auf Maladente, der mit den Armen schlenkerte und hechelnd grinste.
»Si« , sagte Fiuzetta.
»Caterina ist gerettet«, erklärte ich. »Paolo hat Raras Helfer erledigt und sie selbst verhaften lassen.«
»Grazie a Dio« , stieß Fiuzetta hervor. »Was wird mit ihr geschehen?«
»Wenn wir genügend Beweise haben, wird sie hingerichtet«, meinte Calendar grimmig.
Fiuzetta nickte ebenso grimmig. »Bene.«
Ich konnte ihren Hass verstehen; mehr noch, als ich wirklich nachvollziehen konnte, was sie hierher getrieben hatte. Es war nicht auszuschließen, dass Moro auf sie eingeredet hatte. Aber sie war in der kurzen Zeitspanne zwischen Moros Erzählung und meinem Aufstehen aus der Herberge verschwunden, und so war eine erneute Einmischung von Manfridus’ Haussklaven eher unwahrscheinlich. Vielmehr schien sie von einem Verantwortungsgefühl für Caterina getrieben worden zu sein; von der Gewissheit, dass sie es ihr und vor allem den Gassenkindern schuldig war, ihren eigenen Beitrag dazu zu leisten, die Morde aufzuklären – nachdem sie es schon nicht vermocht hatte, Caterina vor den Händen Chaldenbergens zu schützen. Sie wusste so gut wie ich, dass sie es in der Hand gehabt hatte. Sie hätte sich Moro – oder mir – nur einen einzigen Tag eher anvertrauen müssen.
»Wo ist Fratellino?«, erkundigte sich Calendar.
Fiuzetta wies zu dem schmutzigen Nest in der Ecke hinüber. Unter der Decke regte sich etwas, dann erhob sich die Gestalt eines Jungen. Als ich ihn zum ersten und letzten Mal gesehen hatte, war er voll aufgesetzter Wichtigkeit neben seinem Freund herstolziert und von einer Wache zu Paolo Calendar geleitet worden. Sein Freund hatte den viel zu großen ledernen Brustharnisch eines längst zu Staub zerfallenen condottiere getragen. An diesem Brustharnisch hatten Calendar und ich ihn einen Tag später tot aus dem Rio di San Polo gezogen. Fratellino warf die Decke ab und sah mit einer Mischung aus Ängstlichkeit und verlegenem Zutrauen zu uns herüber. Er musste genau in dem Alter von Calendars ältestem Sohn sein. Keine Ähnlichkeiten verbanden sie, außer dass auch er ein Kind war, das die Sünden der Erwachsenen zu tragen hatte.
»Wie lange versteckt er sich schon hier?«, fragte ich Fiuzetta.
»Von Anfang an.«
»Ich war ihm schon einmal so nahe wie jetzt«, sagte ich fassungslos zu Calendar. »Und ich dachte, unter der Decke läge die vertrocknende Leiche eines verhungerten Bettlers.«
Fiuzetta zog das Tuch wieder über den Kopf und straffte sich. Ohne die Kinder oder uns noch eines weiteren Blickes zu würdigen, schritt sie auf das Kirchenportal zu.
»Wo willst du hin?«, rief ich.
»Wo ich hingehöre.«
»Und wo ist das?«
Sie blieb stehen, drehte sich um und lächelte. »Zu Gianna«, sagte sie und zuckte mit den Schultern. »Sie braucht neue Suppe.«
»Sag ihr, dass …« Ich brach ab und fühlte mich plötzlich idiotisch.
»Ich muss es nicht wissen«, erwiderte sie. »Aber sie.«
Calendar kniete sich auf den Boden und streckte eine Hand zu Fratellino aus.
»Komm her, mein Junge«, sagte er sanft. »Erzähl uns, was passiert ist.«
An einem späten Abend, so begann Fratellino seine Geschichte, zwei Tage, bevor Enrico Dandolo seinen Sorgen Luft gemacht und mich in der Herberge angesprochen hatte, lungerten Fratellino und sein Freund Ventrecuoio in dem Viertel gegenüber dem Bischofspalast herum. Sie hofften, die Rückkehr des Bischofs abzupassen, der einem Gerücht zufolge tagsüber auf der Ísola di San Michele gewesen war. Der Bischof würde von Norden her in den Canale di Castello steuern lassen, der die Insel mit dem Bischofspalast vom Arsenal und seinen umgebenden Flächen trennte; und die beiden Jungen hatten sich auf dem nicht befestigten Uferstreifen von Chiostro le Vergine gegenüber dem Bischofspalast postiert, sodass sie das
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