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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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lassen. Sie sind keine Kinder, weil sie gezwungen sind, zu kleinen Bestien zu werden, um zu überleben.«
    »Es geht nicht darum, uns zu ihm durchzukämpfen. Er wäre nicht hier, wenn er nicht die Notwendigkeit dazu einsähe. Wir wären nicht hier.«
    Calendar neigte den Kopf. Die Kinder schwiegen noch immer. »Was nun?«
    »Sie beherrschen die Sprache. Sagen Sie was.«
    Eines der Mädchen schob plötzlich den vor ihm stehenden Jungen beiseite und kam zögernd auf uns zu. Seine nackten Füße schlurften über den Kirchenboden. Auf Armlänge entfernt, blieb es vor uns stehen und starrte Calendar in die Augen. Als er nickte, tat das Mädchen es ihm gleich. Ich hatte erneut das Gefühl, dass eine Art von Verständigung stattfand wie vorgestern zwischen Maladente und dem Polizisten; nur dass das Mädchen nicht ausspuckte. Was immer die Kinder bewogen hatte, mit uns zu reden, es war auch der Grund, ihren Hass auf einen Vertreter der Behörden zu vergessen. Das Mädchen wandte sich mir zu und schenkte mir den gleichen forschenden Blick. Seine Augen waren dunkel im Inneren der Kirche und spiegelten die helle Öffnung des Portals in meinem Rücken wider; sein Haar war lockig und dicht, in Schulterhöhe ungeschickt und wahrscheinlich mit einem stumpfen Messer abgeschnitten und vor Schmutz struppig wie das Fell einer toten Katze; in den Fältchen seines Gesichts klebte lang eingeriebener Dreck; der schlaksige Körper des Mädchens steckte in einer Art Sackkleid, aus dem unten zu dünne Beine mit dunkel-knotigen Knien schauten. Es war das, was aus Caterina geworden wäre, wenn Rara sie nicht entdeckt hätte; im Nachhinein betrachtet schien das Mädchen vor mir das bessere Los gezogen zu haben. Dann sah ich genauer in seine Augen und war nicht so sicher, dass es Caterinas Schicksal nicht trotzdem schon lang geteilt hatte.
    Das Mädchen trat einen schnellen Schritt auf mich zu, beugte sich nach vorn und fasste nach meiner Hand. Zu meiner Überraschung kniete es sich hastig nieder und drückte meinen Handrücken gegen seine Stirn, bevor es aufsprang und wieder zurückwich. Ich starrte es sprachlos an. Das Mädchen holte tief Atem, wandte sich Calendar zu und vollführte die gleiche Geste. Er ließ es ebenso verblüfft über sich ergehen wie ich. Es schlurfte rückwärts, bis es wieder seinen Platz in der Gruppe eingenommen hatte. Dann senkte es den Blick.
    »Was soll das?«, flüsterte Calendar rau.
    Ich zuckte mit den Schultern. Noch immer hatten die Kinder kein Wort geäußert. Sie rückten ein wenig auseinander, und wen immer sie in ihrer Mitte vor uns und unseren Blicken beschützt hatten, erhob sich jetzt langsam.
    »Das ist ein Dank von allen, milite «, sagte die Gestalt, die zwischen den Kindern stand und sich und ihr goldblondes Haar in Lumpen gehüllt hatte, »ein Dank für Caterina.«
    »Fiuzetta«, stieß ich hervor. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
    Calendar versuchte etwas zu sagen und ließ es dann. Er rieb nachdenklich mit den Fingern über seinen Handrücken, wo er die Stirn des Mädchens berührt hatte, ganz so, als wolle er sich vergewissern, dass diese Geste wirklich stattgefunden hatte.
    Fiuzetta trat nach vorn. Die Kinder ließen sie unwillig gehen. Sie kam auf uns zu, und ich sah, dass auch sie barfuß war und schmutzige Füße hatte. Als sie das graue Tuch vom Kopf nahm, schimmerte ihr Haar im Dämmerlicht, das durch das Kirchenportal hereinsickerte.
    »Ist das Caterinas Schwester?«, fragte ich und nickte zu dem Mädchen mit dem struppigen Haar hinüber.
    »Nur so, wie alle hier Schwester und Bruder sind. Sie teilen das gleiche Leid, verstehst du?«
    »Ich wünsche, ich würde es nicht.«
    »Es ist nicht mein Verdienst, dass Caterina gerettet wurde«, erklärte Calendar heiser. »Ich habe den Dank nicht verdient.«
    »Ich bin sicher, du hast ihn doch verdient«, sagte Fiuzetta und lächelte ihm zu. »Ein Kampf gegen sich selbst ist genauso hart wie jeder andere Kampf.«
    »Fiuzetta, was hat die Kinder hierher gebracht? Was hat Fratellino dazu gebracht, meinen Worten zu vertrauen? Er kann mit seiner Schwester nicht gesprochen haben.«
    »Ich habe mit ihnen gesprochen.«
    Ich schüttelte überrascht den Kopf. »Warum?«
    Sie senkte den Blick und nestelte an dem Gewand, das sie sich übergeworfen hatte. Ich nahm eine ihrer Hände und hielt sie fest. In dem formlosen Gewand war ihre Schwangerschaft nicht zu sehen. Sie wirkte noch jünger als sonst.
    »Ist es wegen deiner Geschichte? Was Moro mir

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