Die schwarzen Wasser von San Marco
ließ meine Hand los, nickte mir zu und wandte sich dann ab. Ich hatte erwartet, dass er in Richtung Dogenpalast davonmarschieren würde, doch stattdessen trat er zu der Familie hinüber, die den Fischern zusah. Das kleine Mädchen, an einer Hand der Mutter, drehte den Kopf und spähte über die Schulter zu mir herüber. Sie zeichnete mit der freien Hand etwas in die Luft, das einem Löffel glich. Ich zwinkerte ihr zu. Sie lächelte. Monna Calendar schenkte mir ein knappes Kopfnicken und zog die Kinder dann von ihrem Schauspiel weg. Paolo Calendar begleitete sie und verschwand mit ihnen in der nächstgelegenen Gassenmündung; auf dem Weg in sein Loch von einer Wohnung, dem er sicherlich bald in ein würdigeres Domizil entfliehen würde, auf dem Weg zu der Hülle, die alles war, was ihm von seinem ältesten Sohn geblieben war und der er niemals würde entfliehen können.
Die Fischer gossen ihren nächtlichen Fang immer noch auf das Pflaster, zappelnde Sturzbäche aus Fischleibern, deren Schuppen in der Morgensonne glitzerten. Die Verhandlungen zwischen Käufern und Verkäufern waren jetzt in vollem Gang, und jedem Nichteingeweihten würde es scheinen, als bräche im nächsten Moment ein Bürgerkrieg aus. Dann sah ich sie sich durch die Menge winden, ihre zerlumpten, schmächtigen Leiber hier einem Tritt und dort einem kantigen Ellbogen ausweichend, in der Hoffnung, eine Börse abschneiden, ein Brot stehlen oder einen wertlosen Krebs erbetteln zu können, der den Fischern aus Versehen ins Netz gegangen war. Sie wussten nicht, dass in ihrem Namen ein Kampf geschlagen und gewonnen worden war; und sie hatten auch nichts von diesem Sieg. Der einzige Kampf, der sie interessierte, war jener um ihr tägliches Brot.
Ich wandte mich ab, um nicht darüber nachdenken zu müssen, wer außer einigen geschickten Politikern aus der elenden Angelegenheit eigentlich als Sieger hervorgegangen war. So viel Schmerz, so viele Tode – cui bono ?
Und ich wandte mich ab, um nicht Zeuge zu werden, wie ein Kind mit einem Tritt in die Rippen dafür bezahlte, dass es einen zertretenen Fisch vom Boden kratzte, und am Ende entdecken zu müssen, dass dieses Kind Fratellino war.
Doch dann sah ich, wie ein paar andere Kinder herzueilten und ihren Kameraden aus der Reichweite der Tritte zerrten und in Sicherheit brachten, und ich dachte: Wenn selbst diese Ausgestoßenen, diese Hoffnungslosen den Wert des Lebens eines der ihren erkannt haben, dann können wir es eines Tages vielleicht auch.
Nachwort
Am 26. August 1500 wurde auf der Piazzetta, zwischen den Statuen des Markuslöwen und des heiligen Theodor, die Dalmatinerin Rara de Jadra hingerichtet. Der Scharfrichter hieb ihr vor einer großen Menschenmenge den Kopf ab; ihr Körper wurde zu Asche verbrannt. Rara und zwei ihrer Helferinnen waren für schuldig befunden worden, in ihrem Bordell junge Mädchen zwangsweise in allen Perversionen auszubilden, für die sich zahlende Kunden fanden. Das Todesurteil gegen Rara de Jadra hat diesem Roman seinen Ausgangspunkt gegeben (auch wenn ich es zeitlich in das Jahr 1478 zurückversetzt und die Hintergründe ein wenig verändert habe); notwendig gemacht haben ihn die täglichen Berichte über die Misshandlungen und den Missbrauch, denen unsere Kinder ausgesetzt sind.
Durch alle Zeiten haben wir Menschen unsere Kinder geliebt; durch alle Zeiten haben wir sie für unsere Zwecke benutzt, in unsere Denkweise gepresst, ihnen die Fantasie abgesprochen, ihre Freiheit unterdrückt, ihre eigenen Pläne ignoriert, unsere Bedürfnisse vor ihre gestellt, Zwang mit Erziehung und Vernachlässigung mit Nachgiebigkeit verwechselt; wir haben unsere Kinder zu Haustieren gemacht, sie instrumentalisiert, sie verformt und in Anwandlungen bösartiger, perverser Verirrung missbraucht, gequält und ermordet.
Ich habe das Venedig des ausgehenden fünfzehnten Jahrhunderts als Schauplatz für einen Roman ausgewählt, der diese Handlungsweisen anklagt. Ich hätte jeden anderen Ort und jede andere Zeit wählen können – die Geschehnisse, in die die Protagonisten verwickelt werden, sind leider universell. Dass ich dennoch auf Venedig verfallen bin, liegt nicht zuletzt daran, dass die venezianische Gesellschaftsform bei aller spätmittelalterlicher Differenz zu heute unserer Demokratie am ähnlichsten ist. Es ist der ganz besondere Fluch der Demokratie, dass sie den freiheitsfeindlichen, kriminellen Umtrieben unter ihrer Oberfläche gegenüber verwundbar und viel zu lange
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