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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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ist nicht auszurotten und sucht sich ihre Nahrung selbst. Was von der prosperierenden Stadt ausgespien wurde, kroch hierher, um sich ihr zu ergeben. Dies war der Schatten, den die hell bestrahlte Seite warf, dies war der Dreck, aus dem das Gold schimmert, und die Schlacke, die sich zu den Füßen derer sammelt, die das Metall aus dem Berg waschen. Dies war das dunkle alte Herz der Stadt, und es pochte im trägen Rhythmus der Hoffnungslosigkeit, wo das neue Herz, das Arsenal, in hektischer Bewegung bebte. Es gab nur eines, das nicht so alt war, dass es dem Werk von Salz, Sonne und Wind bereits nachgegeben hatte: große, gemauerte Vierecke, über denen die Möwen kreisten wie ein Schwarm gierig kreischender Harpyien. Hinter all dem Verfall schimmerte das Wasser der Lagune glasig in der Mittagshitze.
    Das Gelände hier am äußersten Ende des Fischschwanzes schien eine Art Niemandsland darzustellen, und wer dort Obdach gefunden hatte, war wirklich durch das Netz der venezianischen Gesellschaftsordnung gefallen. Es bedurfte des lauten Geschreis aus Erwachsenen- und Kinderkehlen nicht, um mir zu zeigen, dass ich nur hier eine Chance hatte, auf die Gassenkinder zu stoßen.
    Auf dem freien Gelände zwischen einer vollkommen zerfallenen Schilfhütte, einem der gemauerten Vierecke und einer Ansammlung von zahnlückigen Häusern hatte sich ein Ring von Menschen versammelt, in der Hauptsache Kinder, doch es waren auch über ein Dutzend Erwachsene dazwischen. Auf den ersten Blick waren fast alle gleichermaßen zerlumpt, zu meinem Erstaunen entdeckte ich jedoch unter den Erwachsenen die erlesenen Kleidungsstücke ein paar vermögender Patrizier, zwei Männer in den leichten Rüstungen von Seesoldaten sowie die muskulösen Oberkörper von Galeerenruderern. Letztere waren schwer betrunken und hielten sich aneinander fest. Sie bildeten mit all den anderen einen Ring, in dessen Mitte sie wüst hineinbrüllten und mit den Fäusten fuchtelten. Eine Konstruktion wie von einem niedrigen Galgen ragte über ihre Köpfe, ein Strick, der an seinem Ende angebracht war, drehte sich wie verrückt, und aus dem Inneren des Kreises ertönte zorniges Gekreisch.

5
    Ich hatte mir keinerlei Gedanken gemacht, wie ich die Gassenjungen dazu überreden konnte, mich zu dem zweiten Zeugen von gestern zu bringen; noch viel weniger darüber, wie ich mich mit ihnen verständigen sollte. Ich hoffte, dass wenigstens einige von ihnen ein paar Worte meiner Sprache beherrschten; die Präsenz des Fondaco dei Tedeschi und damit die Anforderung, einen reichen Kaufmann in seiner Muttersprache anbetteln zu können, legte zumindest nahe, dass ich mit dieser Hoffnung nicht vollkommen falsch liegen konnte. Allerdings hatte ich nicht mit einer Situation wie dieser gerechnet. Es war nicht zu erkennen, was dort im Inneren des Kreises vor sich ging; von einem Hahnenkampf bis zu einer Rauferei auf Leben und Tod konnte es alles sein, und zumindest die Geräuschkulisse legte eher die letztere Vermutung nahe. Ich blieb weit außerhalb des Kreises stehen und versuchte mich zu entscheiden, was ich tun sollte.
    Ein paar Männer schrien plötzlich empört auf. Jetzt konnte ich erkennen, dass die Fäuste, die sie schüttelten, voller Münzen waren. Ein Junge sprang an ihnen hoch und nahm die Münzen entgegen, die er im Laufschritt an einen der zerlumpten Erwachsenen ablieferte. Die Männer, denen das Geld gehört hatte, zogen verdrießliche Gesichter. Der Kreis öffnete sich, und ein weiterer Knabe taumelte heraus, von diversen Fußtritten in meine Richtung befördert. Er zerrte an einer Augenbinde, und Blut lief ihm in Strömen an einer Wange herunter. Ein Ohr war völlig zerfetzt und fast entzweigerissen. Er umklammerte die Augenbinde mit einer Hand und presste die andere auf sein verletztes Ohr, während er, vor Schmerz und Wut schluchzend, an mir vorbeilief. Die Erwachsenen warfen mir misstrauische Blicke zu; das Toben im Inneren des Kreises verstummte für einen Moment. Ich war geistesgegenwärtig genug, entschlossen zu ihnen hinüberzustapfen und dabei eine Hand voll Münzen auf der ausgestreckten Handfläche zu präsentieren. Die zerlumpten Männer warfen sich fragende Blicke zu, dann zuckten einige von ihnen mit den Schultern. Man ließ mich in den Kreis eintreten.
    Die Männer hatten tatsächlich auf den Ausgang eines Kampfes gewettet, und dieser war noch nicht vorüber. Die Kontrahenten waren zwei Knaben mit verbundenen Augen und zerkratzten Gesichtern sowie eine Katze. Das

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