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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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wahrscheinlich wussten sie auch, dass nur die Hingabe und der bedingungslose Patriotismus der Patrizier zu Venedig ihnen eine Arbeit ermöglichte, auf die sie stolz sein konnten.
    Wo die Riva degli Schiavoni über den rio führte, der direkt nach Norden zum Eingang des Arsenals verlief, erhoben sich mehrere massige Bauten. Staubige Säcke stapelten sich vor den Türen und wurden von ebenso weiß bestaubten Trägern hineingeschafft. Es roch nach Getreide. Kurz zuvor hatte mich bereits der betörende Duft frisch gebackenen Brots aus einigen calli innehalten und auf die Suche nach Bäckereien gehen lassen. Dass ich keine fand, bei denen man in einen Laden hätte gehen und einkaufen können, sagte mir – ebenso wie die Getreidelager –, dass sie ausschließlich für den Bedarf des Arsenals existierten. Nun wusste ich nicht nur, dass die Venezianer für ihre Schiffsbesatzungen und ihre Kolonien in Übersee massenhaft harten Zwieback zur Verfügung stellten, sondern auch, wo er hergestellt wurde.
    Der Kai der Sieben Märtyrer, der sich an die Riva degli Schiavoni anschloss, war noch breiter als diese, aber auch deutlich weniger belebt. Weit voraus lag die Öffnung zum Lido, die der nach Osten sich krümmende Fischschwanz, zu dessen Form das sestiere Castello auslief, freigab. Eine lange Kriegsgaleere, die Ruderreihen funkelnd im Wasser, schob sich in die Einfahrt des Lido; das gewaltige Lateinersegel wurde eben gerefft. Kleinere Galeeren eilten ihr entgegen, als an ihrem Mastbaum ein kompliziertes Muster an Wimpeln in die Höhe schoss und eine für mich geheime Botschaft sendete. Nach einem letzten hölzernen Steg führte der Weg vom Wasser weg zwischen niedrige, schmucklose Bauten hinein, zur Linken von einer mannshohen Mauer begrenzt. Der Boden bestand nun aus gestampftem Erdreich, in das sich tief die Räder der Lastkarren eingegraben hatten. Zwischen den Bauten zur Rechten taten sich freie Flächen auf, mit struppigem, hohem Gras oder knorrigen Bäumen bestanden, campi in ihrer ursprünglichsten Form, die keinem Heiligen geweiht waren. Einige der Bauwerke erinnerten an Lagerschuppen, die von weniger erfolgreichen Kaufleuten unterhalten wurden. Da und dort wölbte sich der sonnengebleichte Bauch eines Boots aus dem Gras, das das Wasser der Kanäle nie mehr berühren würde. Erst ein Stück abseits des Weges war wieder eine regelmäßigere Bebauung zu erkennen: kleine, bunte Holzhäuser, von denen die Farbe abblätterte und deren Dächer zum Großteil eingefallen waren; Hütten aus silbrig schimmerndem Schilfrohr. Die Häuser waren aus Holz, das unter der sich abschälenden Farbe hervorkam wie Knochen, die von verfallendem Fleisch bloßgelegt werden. Das einzige aus Stein errichtete Gebäude war die Kirche, die sich mitten unter ihnen erhob wie ein räudiger Hund inmitten seiner nicht minder räudigen Schafherde, geduckt und simpel, mit einem Kirchturm, der die Bezeichnung nicht verdiente – ein Überbleibsel aus Zeiten, in denen eine Kirche nicht nur dazu diente, Gott zu preisen, sondern auch, um sich vor den Scharen der wandernden Barbaren hineinzuflüchten und zu hoffen, dass diese zivilisiert genug waren, das Asyl zu achten. Meistens taten sie es nicht. Die dunkelroten Steine waren schwarz fleckig von altem Brand. Auch hier hatten Flüchtlinge vergebens gehofft.
    Es bedurfte des alten Baus nicht, um zu verdeutlichen, dass das Elendsviertel etwas war, dass alle Zeiten, alle Modernisierungen und vor allem alle Pracht der Stadt gleich daneben unberührt überdauert hatte. Ich war in die Ursprünge der Lagunenstadt geraten. Manche der Fischerhütten mochten schon gestanden haben, als die ersten Flüchtlinge vom Festland hierher übersetzten, verwirrt und angsterfüllt, Bauern und römische Beamte, Militärgouverneure und Priester, dicht gedrängt in kleinen Booten, während hinter ihnen ihre Dörfer, Städte und Paläste in Flammen aufgingen und die Rauchsäulen über der unendlich weiten Ebene standen, in die die Barbaren aus dem Norden über die Berge herabgestürmt waren und in der die letzten Reste der Zivilisation zu Asche zerfielen, die der Untergang des Imperium Romanum übrig gelassen hatte. Sie hatten die Verzweiflung mitgebracht; und hier hatten sie sie auch zurückgelassen, während sich die neuen Bewohner über die Dutzend Inseln in der Lagune ausgebreitet und über die Jahrhunderte hinweg ein Staatengebilde geschaffen hatten, das die restliche Welt in Bewunderung und Furcht versetzte. Aber Verzweiflung

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