Die schwarzen Wasser von San Marco
einen Hand hielt, während er die andere ausstreckte, um uns in sein zerbrechliches Gefährt zu helfen.
»Nein«, sagte ich. »Die zwei Gassenjungen hätten sich im Leben nicht freiwillig als Zeugen zur Verfügung gestellt, und wenn sie zugesehen hätten, wie jemand dem Dogen das Herz mit einem Löffel herausschneidet. Einer der beiden Zeugen ist nicht mehr am Leben. Der andere ist der Schlüssel zu dieser Geschichte. Und wenn ich mich nicht beeile, ihn zu finden, ist er so tot wie sein Freund.«
Der Bootsführer vollführte eine elegant geschlungene Kurvenstrecke durch den starken Bootsverkehr quer über den Kanal und ruderte uns schräg gegenüber in einen stillen rio hinein. Ich hatte mich radebrechend mit dem Dienstmädchen verständigt, das ihn daraufhin gebeten hatte, mich bei der erstbesten Möglichkeit abzusetzen, sodass ich zum Arsenal gelangen konnte. Ich versuchte mir die campi zu merken, die mir das Dienstmädchen beschrieb und die ich bis zum Markusplatz würde passieren müssen: San Maurizio, Santa Maria dei Giglio, San Moisè. Ich küsste Jana zum Abschied und versprach ihr, vorsichtig zu sein; aber ebenso wie mein Kuss schien auch ihre Sorge nur halbherzig. Ihre Gedanken waren bereits bei etwas anderem, und ich kämpfte auf meinem Weg abwechselnd mit meinem Missmut über ihr Verhalten und mit der Angst, dass die alte Vettel am Campo dello Incurábili ihr etwas so Schwerwiegendes über die Natur ihrer Krankheit mitgeteilt hatte, dass Jana es mir nicht erzählen wollte.
Auf dem Campo San Moisè sah ich durch eine lange, gerade calle das Wasser des Canàl Grande schimmern und änderte meine Marschrichtung, bis ich auf einen der breiten Uferwege gelangte, die am Canale di San Marco entlang zum Arsenal führten. Es waren weniger Fußgänger als üblich zu sehen. Die Hitze um die Mittagszeit vertrieb alle, die vernünftiger waren als ich und nichts zu arbeiten hatten, in ihre Paläste. Ein paar gut gekleidete Kinder rannten johlend an mir vorüber, bunte Papierfähnchen schwenkend und ihren weit ausladenden Armbewegungen nach zu schließen venezianische Kriegsgaleeren in voller Fahrt darstellend. Die Fähnchen waren mit Wappenfarben bemalt, die mir nur allzu bekannt vorkamen: Jemand verwendete offensichtlich sein Geld bei allen nur erdenklichen Gelegenheiten, um auf sich aufmerksam zu machen. Nicht weit von mir legte ein flaches Boot mit einem Ruderer und zwei Passagieren ab und wurde mit kräftigen Ruderschlägen ins Becken von San Marco hinausgetrieben. Einer der Passagiere kauerte im Heck, eine Gestalt mit einem langen Mantel und einer Kapuze auf dem Kopf. Ich betrachtete ihn und fragte mich, wie um alles in der Welt er es in diesem Aufzug in dieser Hitze aushielt. Dann wandte die Gestalt den Kopf zur Seite, und ich sah eine lange Schnauze aus der Kapuze ragen wie den Rüssel eines Untiers. Es war ein Arzt, der sich eine mit Kräutern gefüllte Atemmaske aufgesetzt und in einen Schutzmantel gehüllt hatte. Vermutlich lag weiter draußen im Kanal ein Schiff, das einen der Wimpel gehisst hatte, die eine ansteckende Krankheit anzeigten, und der Arzt war unterwegs dorthin, um festzustellen, ob eine Quarantäne genügte oder ob man das Schiff notfalls mit Waffengewalt aus der Lagune vertreiben müsste. Aus einer verhüllten Lampe zu Füßen des zweiten Passagiers stieg ein dichter weißer Rauchfaden. Ich versuchte vergeblich das Bild aus meinem Kopf zu verscheuchen, wie sich der lange lederne Rüssel zum fiebrigen Gesicht meiner Gefährtin hinunterbeugte, während der Helfer des Arztes, ein bleicher Junge, ängstlich mit der Weihrauchpfanne wedelte und Stoßgebete flüsterte, um sich nicht anzustecken.
Wenn ich gedacht hatte, in den Gassen rund um das Arsenal genug Vernachlässigung und Schmutz anzutreffen, um dort die meisten Gassenkinder zu finden, hatte ich mich getäuscht. Das Viertel mochte von den Arbeitern und Handwerkern des Arsenals bestimmt sein, und es mochte eine deutlich sichtbare Grenzlinie zwischen den prächtigen Hausfassaden an der westlichen Hälfte der Riva degli Schiavoni und den einfachen, schmucklosen Zweckbauten in ihrer Fortsetzung unterhalb des Arsenals geben – aber von Schmutz und Verkommenheit war nichts zu sehen. Die vieltausendköpfige Arbeiterschar des Arsenals schien über einen Stolz zu verfügen, der demjenigen der Patrizier in nichts nachstand. Sie wussten, dass nur ihre harte Arbeit das luxuriöse Leben der anderen und den Glanz ihrer Heimatstadt ermöglichten; und
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