Die schwarzen Wasser von San Marco
vierten Kind das Leben zu schenken. Man kann auf vielerlei Art schuldig werden: Meine Schuld bestand darin, den Geburtsvorgang als etwas Selbstverständliches betrachtet zu haben, anstatt ihn als das prekäre, gefährliche Wunder anzuerkennen, das er war. Meine Schuld bestand darin, mich meinen Geschäften gewidmet zu haben, während meine Frau starb. Bis ich in das Schlafzimmer gerufen wurde, war es zu spät. Die Hebammen hatten alles Menschenmögliche versucht, Maria zu retten, und eine von ihnen war sogar zu Fuß in die Stadt gelaufen, um einen Arzt herbeizuholen.
Doch Maria hatte zu viel Blut verloren. Nun, zehn Jahre später, konnte ich meine Erinnerung daran wachrufen, ohne sofort in tiefe Verzweiflung zu verfallen; wenn ich »sofort« sage, meine ich damit, dass die tiefe Verzweiflung immer erst ein paar Stunden später kam – im Bett, in der Stunde des Wolfs, wenn man sich schlaflos umherwälzt und die Rufe des Nachtwächters zählt. Das Kind war nicht geboren worden, es war auf einem Sturzbach aus Blut förmlich aus Maria herausgeschwemmt worden – ein lebloser Körper, der irgendwann zwischen dem letzten Mal, als ich das Strampeln eines Beinchens durch Marias straff gespannte Haut gespürt hatte, und dem Tag, an dem das Leben hätte beginnen sollen, still seine Seele aufgegeben hatte. Maria war ohne Besinnung, als ich in das Schlafzimmer stürzte
– das Blut, das viele Blut ,
und sie kam auch nicht wieder zu sich. Irgendwann traf der Arzt ein und löste den toten Körper meiner Frau aus meinen Armen; irgendwann stand mein Freund Hanns Altdorfer neben mir und versuchte, mich zu trösten; irgendwann kam auch der Priester und begann, seine Phrasen zu murmeln. Jemand legte mir den eingewickelten Leichnam unseres Kindes in den Arm, damit ich von ihm Abschied nehmen könne, und ich verstand, dass ich nun auch von Maria würde Abschied nehmen müssen. Ich starb ebenfalls, als ich es tat.
Sieben Jahre war ich ein wandelnder Leichnam, der Schatten eines Mannes, der öfter mit den Gespenstern redete als mit den Lebenden und der den Versuchen seiner Kinder, mit ihm zusammen das Geschehene zu verarbeiten, mit teilnahmsloser Verzweiflung zusah. Nach einer Weile wurden auch sie mir gegenüber teilnahmslos. Männer kamen, schenkten meinen beiden Töchtern Sabina und Maria mehr Liebe, als ich aufbringen konnte, und nahmen sie mir weg in Hochzeitsfeiern, an die ich mich kaum erinnern kann. Eine neue große Liebe trat auch in das Leben meines Sohnes Daniel, als er sich entschloss, den Beruf des Steinmetz zu erlernen: der Martinsdom in Landshut, dessen kühner Bau aus dem Herzen der Stadt emporwuchs wie ein inbrünstiges Gebet an den Herrn. Ich ließ sie alle gehen. Meine Traurigkeit darüber erstickte mich, aber in der allgemeinen Trauer, in der ich gefangen hing, war sie nicht mehr als ein Schatten, der in den bodenlosen Brunnen fiel, der sich in meinem Herzen befand; aus diesem Brunnen heraus beobachtete ich das Fortgehen meiner Kinder, und wenn sie erwartet hatten, dass sich meine Erstarrung spätestens dann löste, hatte ich sie enttäuscht.
Die Zeit ist ein Heiler. Ganz allmählich heilte sie auch mich. Es kam der Augenblick, da meine Düsternis nicht mehr unmittelbar von Marias Tod herrührte, sondern vielmehr ein Gewand war, aus dem ich mich nicht mehr lösen konnte, denn ich hatte es zu lange getragen. Erst Jana gab mir die Fähigkeit, mich aus diesem Umhang zu schälen; sie verwandelte Marias Schatten, der mich aus jeder Ecke schmerzvoll anstarrte, in eine Erinnerung der Liebe, die ich in meinem Herzen bewahren konnte. Jana war meine fehlende Hälfte: spontan, direkt, stets das Herz auf der Zunge tragend und meist von einem neuen Projekt beseelt, während sie noch dabei war, das vorherige abzuschließen.
In Florenz hatte ich geglaubt, meine Liebe zu ihr verloren zu haben. Dann hatte ich befürchtet, sie selbst zu verlieren. Ein gütiges Schicksal hatte dafür gesorgt, dass sich beide Befürchtungen nicht bewahrheiteten. Wenn ich in Ruhe darüber nachdachte, wusste ich, dass meine Liebe zu Jana womöglich noch größer war als zuvor.
Als ich zur Herberge von Michael Manfridus zurückkehrte, eröffnete mir Jana, dass sie schwanger sei.
Julia stahl sich leise aus unserer Kammer hinaus; ob aus Taktgefühl oder weil sie wusste, wie ich auf Janas Worte reagieren würde, vermochte ich nicht zu sagen. Jana saß auf einer Truhe am Fenster, in einem der von Lorenzo de‘ Medici überreichten Gewänder strahlender
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