Die schwarzen Wasser von San Marco
den Status eines Ladenhüters sinken«, sagte ich grimmig.
»Wie ich schon sagte, war das alles für unbeteiligte Zuschauer vollkommen unergiebig. Ich kann freimütig erzählen, dass die Stunden, die ich in dem Zelt verbrachte, vergebens waren. Keiner der Sklavenhändler, die dabei waren, würde es zugeben – wenigstens nicht in einer Schankstube oder auf der Gasse, sodass man es sich herumerzählen würde. Für ganz Venedig bis auf vier oder fünf Leute wurden die Gefangenen gestern verkauft.«
Sie schwieg und zeigte mir nach wie vor ihr Lächeln. Langsam dämmerte mir, was sie mir sagen wollte. »Ich kann gar nicht wissen, was ich weiß, habe ich Recht?«
Rara zuckte mit den Schultern. »Sicherlich haben Sie eine gute Erklärung dafür.«
Ich erwiderte ihren Blick, ohne zu antworten. In den Jahren meines Daseins als Kaufmann habe ich nicht viel gelernt, aber eines der wenigen Dinge, die ich mir angeeignet habe, ist, mit einem nichts sagenden Lächeln und festen Auges auf eine Frage zu reagieren, die man nicht beantworten will. Nach einer Weile wich Rara aus. Sie tarnte es, indem sie aufstand und ihr Kleid glatt strich.
»Sie kommen in mein Haus. Sie erzählen mir eine Lüge nach der anderen. Sie wollen, dass ich Ihnen helfe, doch Sie erachten mich nicht einmal der Wahrheit für wert.« Sie wandte sich ab und ging zu einem der Fenster, die auf die Straße hinausführten. Sie hob den Arm und winkte. »Ich möchte, dass Sie gehen.«
In der Stille des Hauses hörte ich, wie jemand über den Innenhof stapfte und die Treppe heraufkam. Ich erhob mich ebenfalls.
»Eine Frau wie Sie braucht keinen Beschützer, der auf der Straße draußen wartet, ob er jemanden am Kragen packen und hinausschleifen muss.«
Ihr Rücken blieb mir zugewandt, als sie leise sagte: »Und ich dachte, ein Mann wie Sie hat es nicht nötig, zu Lügen Zuflucht zu nehmen.«
Die Tür zum Saal öffnete sich, und ein Gebirge von einem Mann trat ein. Seine Haare waren eingeölt und straff zu einem Zopf zusammengebunden, der auf seinem Scheitel saß wie eine fettige Blume auf einer dicken Pflanzenknolle. Sein Gesicht war pockennarbig und seine Zähne schlecht. Er entblößte sie dennoch zu einem Grinsen, das einen ganzen Frauenkonvent kreischend in die Flucht geschlagen hätte. Er trug eine Art Weste, die einem kleineren Mann eng gewesen wäre und mehr eine Dekoration für den Muskelberg darstellte, der sein Oberkörper war, als dass man sie als Bekleidung hätte werten können. Die Hosen waren eng und gestreift und liefen im Schritt in einer ledernen Schamkapsel zusammen, deren Ausmaße die mutigsten des Frauenkonvents vielleicht wieder angelockt hätten. Unterhalb der Knie verschwanden die Hosenbeine in hohen Stiefeln, die aussahen, als würden sie ihrem Besitzer vierundzwanzig Stunden am Tag treu an den Füßen bleiben.
»Ursino«, sagte Rara auf Venezianisch, »er möchte gehen.«
Ursino grunzte etwas zur Antwort und machte eine einladende Geste zur Tür hinaus. Ich marschierte ohne Widerrede vor ihm her die Treppe hinunter. Ich hörte sie unter seinem Gewicht ächzen, als er mir folgte. Ursino brachte mich bis zu der sottoporthega , die auf den Campo San Simeòn Propheta hinausführte, dann deutete er in die Richtung, die zum Haus Raras genau entgegengesetzt war, und brummte etwas, dessen Inhalt ich nicht verstand. Die Aussage war dennoch klar: Sollte ich vorhaben, nochmals herzukommen, würde ich einer Darstellung seiner Künste im Gliederausreißen beiwohnen dürfen.
»Ursino«, sagte ich freundlich, »ich wette, du hast sogar noch im Kopf einen Muskel statt des Gehirns.«
Er nickte und schenkte mir wieder sein Raubtierlächeln. Ich drehte mich um und ging in die Richtung, in die er zeigte. Alles andere wäre mir als Spiel mit meinem Leben erschienen. Er beobachtete mich, bis ich auf den campo hinaustrat und aus seinem Blickfeld geriet.
Ich hätte Rara die Wahrheit sagen können. Ich hatte es nicht getan. Der Grund dafür war, dass ich mich erneut beobachtet gefühlt hatte. Die Handschuhe, die gestern auf einer der Truhen gelegen hatten, waren verschwunden. Das musste nichts bedeuten, mein Gefühl wurde ich dennoch nicht los. Und falls ich es infrage gestellt hätte, dann waren diese Zweifel spätestens dann verschwunden, als Ursino in den Saal trat. Selbstverständlich hatte ich sein Gesicht nie gesehen, aber seine Kleidung, seine Haartracht und seine Haltung hatten mich an etwas erinnert: an jene Männer, die die Besatzung einer
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