Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
mit der Nüchternheit einer Bürosukkulente das Unsterblichkeitsgrau der Formulare hinunterwandern; aber dieses Mädchen und ihr Kakao seien immer noch da, haltbarer als üble Nachrede sei dieses Pastell! Dieser eine, ewige, aus der fragilsten Kammer der Zeit entlassene Nachmittagsaugenblick, in dem man sich einen Freiflug gönnt zwischen zwei Gestirnen: dem abflauenden Mars der Vormittagsgeschäfte (heute, fügte Urvasi hinzu, würden in der Liotardschen Zeitfurche Mails »erledigt«; er mähte zärtlich knapp über eine Dahlie) und der noch vor dem Ankleideraum zögernden Venus der Abendvorstellungen. – Wenn Sie damit andeuten wollen, daß wir nicht weltläufig sind, sagte Niklas, so muß ich entschieden widersprechen. Wir ahnen durchaus, daß es auch Menschen jenseits des Elbtals gibt. – Zum Beispiel in Leipzig, sagte Urvasi. – Das aber noch nischema een vernünftschen Fluß hat, sagte Niklas. – Wobei ja die Zündschnur der Dresdner Eifersucht, sagte Urvasi, Traufhöhe heiße, historisch verbürgte zumal. Wehe dem Architekten, der sie mißachte, er werde sich, bei der öffentlichen Vorstellung seines Projekts, mehreren Hundertschaften genauestens informierter gebürtiger Dresdner gegenüberfinden, die während seines Vortrags zu Boden starrten und die Arme verschränkt hielten. – Zustimmung, Niklas nickte, sei dafür nicht das treffende Wort. Immerhin, der Neumarkt werde ja angefeindet, aber man müsse doch sagen, daß es wieder ein Zentrum sei. Die moderne Architektur habe nicht verstanden, daß es außer Leitbauten wie der Hamburger Elbphilharmonie auch Wohn- und Geschäftsbauten geben müsse, die den Menschen das Gefühl von Zuhausesein vermitteln, Geborgenheit, also das, was der Begriff Wohnung eigentlich verlange, im weiteren Sinn die Urbanität. Bevölkerungsbau, mit einem Wort. Er sehe nicht, wo das der modernen Architektur gelinge, das sei ihr Akzeptanzproblem. – Andere Epochen hätten, sagte Urvasi, recht rücksichtslos ihre Vorstellungen durchgesetzt, oder solle man glauben, vor dem Barock habe es in Dresden nichts gegeben? Wir leiden unter Gestritis, und wo nicht zu vermeiden, dann künstlich auf in die Vergangenheit, retro, naja. Was für eine Zeit, die so etwas nötig hat. Aber das ist nicht nur ein weites, das ist ein Trümmerfeld. Es beschäftige ihn schon lange und sei ihm auch ein gewisses Rätsel, weshalb historisches Bauen so akzeptiert sei und modernes nicht. Der moderneArchitekt, sagte Urvasi, sei der natürliche Feind des Dresdners, des gebürtigen zumal. Und die Baugrube sei der Abgrund, in dem die Schönheit versinke. Wenn der moderne Architekt glaube, besonders fortschrittlich sein und etwa den Neumarkt für eine Puppenstube erklären zu sollen, eine Fälschung aus dem Geist beschränkter Nostalgie und einer Sehnsucht, die auf Kitsch und »wie immer« hereinfalle, so werde er zu verstehen bekommen, daß Gemütlichkeit und »Sahneschnitte« Wunsch und Wille des Volkes seien, daß er seine Glas-Stahl-Beton-Visionen gerne irgendwo im Westen verwirklichen dürfe oder, wenn schon in unserer Residenz, dann auf einer der vielen Brachen; aber doch nicht an städtebaulich sensiblen Punkten wie dem Schlagschatten der Frauenkirche. Und wenn der moderne Architekt argumentiere, daß »die Zeit, in der wir leben« ihren Ausdruck finden müsse und also modernes Bauen auch und gerade in der Altstadt seine Berechtigung habe, werde ein töteseliges Glimmen in die je nach Gemüt argwöhnisch verengten oder entrüstet geweiteten Augen der Zuhörer geraten, werden sich Blicke heben, um a) »den Kerl das spüren zu lassen« und b) ihn sich genau einzuprägen: Unsere Altstadt gehört uns, hebe dich hinweg, du Stümper, mit deinen Bauten, die unsere Herzen nicht erwärmen! »Um Gottes willen – ä Moderner! Ich hab gehört, der erntet selbst de Äbbel ohne Kompromisse!« – »Ach weeßte, der wird in Dresden nich lange tätig sein, nichwahr.«
30
Niklas erzählte von seinen Anfängen, erstem Geigenunterricht »in einer Hornzschje in Mickten«, und wie er durch die Trümmerwüste der zerstörten Stadt zu dieser »Bude« gegangen sei, »beeindruckend, die bizarren Formationen, hat mir besser gefallen als das Aufgeräumte nachher«; am schönsten sei es im September gewesen (der Jahreszeit der Kostümverleihe, warf Urvasi ein), – wenn überall auf den Trümmern die Goldrute blühte, »ein Meer aus Gold, eine auf eine Bonanza gestoßene Goldwäscherei, grauenhaft schön«; von Bannewitz die
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