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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Augenblicke ist es wieder sein Land. Der Junge, der ich war, geht an Bord nach Mathias Sandorfs Triest (auch eine tempi-passati-Stadt), reist mit der »Nautilus« des Kapitän Nemo um die Welt – ein beleuchteter Räth-Globus in der Ecke unter den mit Landkarten beklebten Dachschrägen. Straßenköter, Piraten, Autodiebe werden lauern. Wespen fressen sich durch die Dachdämmung. Bewacht vom Rasiermesser aus Harands Friseursalon, das an einem seidenen Faden über dem Schreibtisch hängt, vertritt eine Tintenflasche der Loschwitzer Tintenfabrik Leonhardi die Epoche der Handschrift, weiß von stromlosen Zeiten (ein mit Leonhardis Alizarintinte geschriebener Brief war nach dem Untergang des Postdampfers »Nordland« noch lesbar); wartet, im Winkel unter den Grafiken von Eulenfaltern und Vögeln (Leierschwanz, Pirol, Gewürztaube, Wiedehopf), der Märchenkoffer auf die Stunde der Schuhe. Die Taschen meines Arztkittels halten Stethoskop, Vergiftungstabelle, Reflexhämmerchen für die Staffeleien mit den angehefteten Plänen bereit. Sarrasanis grünweiße Fahne, auf den Zirkusbüchern von Ernst Günther und einem Stapel der »Zauberkunst«, Zeitschrift des »Magischen Zirkels«, mustert Seesack und Schreibmaschine an. Unter dem Steuerrad, geeicht von Wasserwaage, Glashütter Marineuhr und einer Zigarrenkiste voller Bleistifte, sehe ich die Weinleite wie eine Landzunge aus einer italienischen Oper im Seegang der Bäume liegen, höre die Echos vergangener Abendfeste, das Geschwirr erzürnter Klaviere aus dem wie eine Sarazenenburg über der Plattleite thronenden Haus Orlando, in dem sich ein Internat für Kinder griechischer Partisanen und später Büros der Konzert- und Gastspieldirektion befanden. Die wutentbrannten Schreie gedemütigter Soprane durchbohren bis zum völligen Verschleiß wiederholte Tannhäuser-Romerzählungen, Fußtritte abgelehnter Schauspieler krachen gegen eine stabile Schranke,die sich in ein Park-Panorama, den von der Standseilbahn langsam polierten, im August überkochenden Blumenkasten von Dresden öffnete. Zurückkehren werden die Winter, die Jahreszeiten ferner Küsten, des Hungers, des Verrats und der Freunde; zurückkehren werden Rost und Schlaf. Aber auch sie wird es geben, die Freiheit des Abschieds, die sesamtragenden Türen.

Bahnhof 1987

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