Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
original erhaltenen erzgebirgischen Spinnrad, beträchtlichen Vorräten an Flachs und Wolle, Räucherstäbchen nebst zugehörigen Einsteck-Kanus, Aromatees, Wohlfühlkerzen, gefärbten Lederarmbändern, Sandelholzschmuck, chemielosen Säften und Marmeladen, einem Sortiment an Wünschelruten, die sie in ihrem Naturladen »Rita & Ruth« nicht nur zum Brunnensuchen anboten, machten mit den Architekten von »[propeller.gelb]« im Erdgeschoß der »Insel Helgoland« eine WG auf. Abwasch und Reinigung gingen reihum, blieben aber an einer albanischen Putzfrau hängen. Die Architekten waren für, Rita & Ruth waren gegen die Waldschlößchenbrücke. Sie knüpften Verbindungen zu Bauernhöfen, auf denen glückliche Hühner glückliche Regenwürmer scharrten und antibiotikafreie Eier legten. Sie färbten Stoffe und spielten abends für die Kinder aus der Straße Puppentheater. »Coloradio« brachte Interviews mit Bands, deren Mitglieder halbe Minuten lang ins Mikro schwiegen. Punkmusik hämmerte. Sofas standen im Freien, Hausbesetzer genossen die Sonne. Matratzen brannten. Molotowcocktails flogen durch die Luft. Polizei trieb Pulks von Revolutionären mit viel Metall im und Kapuzen über dem Gesicht in die Hinterhöfe, wo Holztrümmer, vollgekotzte Kinderwagen und verkokelte Wäsche auf den Wäscheleinen übrigblieben. Rita, die aus Hamburg elbeauf gezogen war, bot Webkurse an, die Architekten pflegten die website. Ruth, begeistert von den Neustädter Möglichkeiten, nahm Kontakt mit außerirdischen Zivilisationen auf.
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Wir gingen spazieren. Die Elbe wirkte leicht, die Häuser schwammen davon. Giuseppe war traurig. Sein Schnurrbart hing schief herab, und nicht erst, seitdem Rat Himmelheber für immer aus der »Insel Helgoland« fortgezogen war. Wer sonst wollte noch zu Arien aus italienischen Opern rasiert werden? Wer ließ sich überhaupt noch mit dem Messer rasieren? »Ach«, ließ Giuseppe manchmal seine Gehilfin Şirin wissen, die Comics zeichnete, wenn bei »Barbier Boffi« gerade nichts zu tun war, »die Zeit vergeht.« Er war traurig und putzte die Gipsfiguren im Salon nur halb. An geraden Tagen die rechte Hälfte, an ungeraden die linke. Manchmal verwechselte er es, seitdem ein Cassabuch vollgeschrieben und ein neues noch nicht begonnen war. Und dann trug auchdie Dame mit dem Mut zum großen Hut Trauer, denn Caligula war gestorben, ihr Zwergpudel, wahrscheinlich an Arteriosklerose. Caligula hatte zuletzt einer Schlummerrolle geglichen, auch ohne die tägliche Waschung mit Hundeshampoo. Die daraus folgende Gelassenheit ließ Caligula, wenn er die Dame mit Hut Gassi führte, nur bis zum linken Vorderreifen des Autos vom Koch gelangen; der rechte Vorderreifen gehörte Nebukadnezar, dem Hund des Betreibers einer Gay-Bar. Giuseppe hatte das Gefühl, daß die Abende das Septemberblau festhielten, dann sah er nach dem Barometer über der Theke von »Barbier Boffi« und fand es auf »Veränderlich« stehen. »Ach«, seufzte er, indem er mit mildem Knall eine Mücke im Cassabuch begrub.
Vielleicht war es der Herbst, der ins Viertel gekommen war wie ein Fremder, der alte Ansprüche hat, ein Mann mit stillem Schritt, den die Katzen auf den noch durchwärmten Steinen spürten, so daß sie die Köpfe wandten, wenn er vorüberging; ein Fremder, den man sah und beobachtete, weil er sonderbar schien und nicht zu uns gehörte, der uns nachdenklich werden ließ, er zögerte nie vor einem Haus, einem Eingang wie vor etwas Unbekanntem; Verhältnisse, die sich änderten: wir gehörten nicht zu ihm. Giuseppe spielte Rat Himmelhebers Lieblingsarien. Pavarotti war nicht bei Stimme. Die Septemberregen kamen, hellgrün und kühl. Die Schatten blieben länger.
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An der Elbe verlangsamten Niklas und Urvasi ihren Schritt, so daß sie in den Kreisel aus Licht gesogen zu werden schienen, den der Altweibersommer mit Trauerweidenzweigen trieb; der saphirklare Lack des Blätterfließens bedeckte Wege, Spaziergänger, ein Kiesschlepper schmolz in der Silberdistel-Glut vor der Augustusbrücke.
Niklas erinnerte sich an seine Jugend im kriegszerstörten Dresden. Die evakuierte Staatskapelle spielte in Bad Elster und Bad Brambach, im»Goldenen Löwen« in Freital, im Kurhaus Bühlau, wo es die legendäre, von Erhart Kästner dokumentierte »Salome«-Aufführung mit Christel Goltz gegeben hatte. Mit einem Eintrittsbrikett in der Tasche und Hunger im Magen sei man mit der 11 hinaufgefahren, nach der Aufführung wieder zurück in die Stadt. Dem
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