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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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unter Friseurschürze und Halsriemen atmende Junge, dem man mit einem von Friseur-Europa- und Vizeweltmeister Rehn, Oskar-Pletsch-Straße, geborgten Rüffel »Halt Er Seinen Wirsing still« beizubringen gedenkt, daß all die Ablenkungen ringsum nicht für ihn gemacht sind, daß die Geschichten des Generals Paulus von den Schlachten im Osten nicht für seine Ohren, sondern für die Gespenster der gefallenen Kameraden ausgesprochen werden, die der General auferstehen sah aus den Gemetzeln und dem Sterben in Stalingrad, wo es keine heldische 6. Armee, wie Propaganda gelogen, sondern nur arme Teufel gegeben hatte, die nicht wußten, wofür sie in Schnee und Kälte und Hunger eigentlich verreckten; des Generals lichternde, die Decke des Friseursalons abtastende Augen, mit deren Bildern, zugeschwemmt von Rasierschaum und Haarwaschmittel, er allein blieb. Er starb 1957. Man erzählte von seinen Erzählungen. Mitten im Sahneweiß der von Meister Harand persönlich zu feinster Steife geschlagenen Creme arbeitete eine der Brasilrauchschrauben von Zigarren-Ziegenbalk am Schillerplatz, taktete auf und nieder im oft stockenden Fluß der Kriegsgeschichten. Für eben sprießende Bärte, die anläßlich einer Jugendweihe oder Konfirmation dressiert werden mußten, schlugen die Gehilfen den Schaum in einer En-gros-Schüssel; für die Stammkunden, zu denen auch der General zählte, gab es die mit Namensschild reservierten Schälchen mit blauen Schwertern, die neben den entsprechend reservierten Rasierpinseln auf einem Bord gegenüber den Spiegeln, zwischen Fotos luftiger, im unnachahmlichen Schmelz der Barytpapierfotografie gebannter Blumengestecke aus dem Atelier Basarke aufbewahrt wurden.
    … Evana Mieder: Bewundernswert war die Widerstandskraft eines solchen Geschäfts unter den Großlasten jener Jahre, die man mit »Völker, hört die Signale«, Waldsterben und Atomkrieg bezeichnen kann, die geradezu schöngeistige Liebe zu Stoffkuppeln und -kegeln, die hinter Glas in Schränken als seidenleichte »Hebt die Gefallenen«-Riegen auf weibliche Kundschaft warteten, von der wir, die Teufelsbrüderbande,erotische Fatamorgana-Vorstellungen hatten, wenn wir in einer Umkleidekabine lauerten und das nachwehende Klingklang der Eingangsschelle mit dem Anhauch aus Lockungen duettierte, fallschirmhaft langsam an unsere gierigen Nüstern sinkenden Düften, die aus einem der orientalisch anmutenden Parfumzerstäuber bei Harand oder aus dem Kosmetiksalon Nofretete stammten; verführt und ohnmächtig dem Brodeln unserer Sinne ausgesetzt, verharrten wir, bis die Echos des Tritt näher! (dieser beflissenen, gleichsam teppichausrollenden, für die Umschlagplätze des Genusses so charakteristischen Einladung) irgendwo in den von Strumpfknistern umspielten hochhackigen Schritten kapitulierten, die dann mit der Stille des Geschäfts und unserer Reglosigkeit allein blieben. Schon fragte die Verkäuferin nach dem Begehr der Kundschaft; ich fummelte an einem der Warenmuster herum, die uns Frau Vogel, aus Mitleid mit pubertären Nöten und um unser Lauschen hinter einem Vorhang, der so eindeutig zu fremdem Gebiet gehörte wie hier, mehr zu ermöglichen als zu rechtfertigen, gegeben hatte; und als ich es nach lautloser Klärung der Hackordnung wagte, den Vorhang so weit beiseite zu ziehen, daß ich einen Blick auf die Verursacherin meines Herzklopfens (welch Wunder, eine Frau) erhaschen konnte, sah ich die Kalte Klawdia von imposantem Körperbau, die in einem melodiös geschwungenen Deutsch voller glockiger Konsonanten nach einem Sondermodell, der »Großen Extra Hebe« (»Chebe«), verlangte.
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    Amann, »Kerfe des Waldes«, Neumann Verlag zu Radebeul: Die Fraßbilder des Ulmensplintkäfers und des Buchdruckers, vielarmige, ins Holz geschürfte Spindeln, ließen mich an den Elbhang denken, wo die Häuser über unsichtbare Nabelschnüre mit einem Zentrum, einem Mutterkuchen, verbunden sind (immer wieder grüble ich über den Namen dieser Plazenta nach: Heißt sie Erinnerung an das von Denkmalpflegern allzusehr mit der Kosmetik der Wünsche gesalbte alte Dresden, heißt sie Das mögliche Leben, DIE ITALIENISCHE IDEE?); ein Nervengeflecht aus Beziehungen, Gesprächen, Pilotprojekt der Sonnenuhren und eines vom Werden und Vergehen der Natur inspirierten, mehr den Äpfeln, Birnen, Quitten als den abstrakten Begriffen zugetanen philosophischen Sinns: Diogenes mit seiner Tonne hätte sich hier wohl gefühlt, Kant, glaube ich, nicht. Es ist dieser Sinn, der hin und

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