Die schweigenden Kanäle
Sessel hoch. Er sah, daß Cravelli ihm an Beherrschung überlegen war. Das lächelnde Gesicht des Italieners bewies den Mißerfolg. Es war wie immer bei Cravelli: Mit dem Kopf allein konnte man die Wand nicht einrennen.
»Ich nehme mir einen Whisky«, sagte Cramer und ging steifbeinig zur Bar. Cravelli nickte.
»Bitte, die zweite Flasche von links. Daraus habe ich auch getrunken. Es ist sicherlich kein Gift drin …« Er lachte, und dieses Lachen war wie ein Triumphgeheul. Cramer kam es jedenfalls so vor, und es kostete ihn große Überwindung, nicht seine Hände gegen die Ohren zu pressen.
Mit bebenden Händen goß er sich das Glas voll und trank es in kurzen Zügen aus.
»Prost!« sagte Cravelli jovial. »Nun wird Ihnen besser sein, was? Sie könnten ein so fabelhafter Kerl sein, Signore Cramer, wenn Sie nicht diesen Detektiv-Spleen hätten. Aber irgendwo hat ja jeder Mensch seine Sonderheiten. Ich auch. Ich sammle alte Schreibmaschinen. Lächerlich, nicht wahr …«
Rudolf Cramer verließ den Palazzo Barbarino mit dem Gefühl, sich blamiert zu haben. Cravelli begleitete ihn bis zur Gondel, so wie er vor zehn Jahren Ilona begleitet haben wollte. Ein galanter, noch beim Abschied scherzender Gastgeber. Er winkte sogar Cramer nach, bis er um die Ecke ruderte.
Dann stand Sergio Cravelli allein und sinnend in der Dunkelheit auf seiner Treppe und starrte in das schwarze, nach Fäulnis riechende Wasser des Canale Santa Anna.
Die Frage, ob er Chemie liebe, war nicht von ungefähr gekommen, das wußte Cravelli. Aber es war ihm unbegreiflich, daß Cramer einen Zusammenhang mit Dr. Berwaldt ahnte.
»Man muß das feststellen«, sagte Cravelli und starrte in die Nacht. »Man hätte es sofort tun müssen –«
Er dachte an die vergangenen Tage, und er mußte sich eingestehen, daß er sich durchaus nicht wohlfühlte.
Es war schon eine schwere Last, eine Welt regieren zu wollen.
Die Gondel Cramers fuhr nicht weit.
Er ruderte sie um die Biegung des Canale Santa Anna herum und ließ sie im seichten Wasser liegen, während er an das Ufer kletterte und über die schmale Gasse zurück zur Rückseite des Palazzo Barbarino ging. Über die Hälfte des Cravelli-Hauses war auf dem Boden einer der vielen kleinen Inseln gebaut, die zusammen mit den Kanälen und Brücken das alte Venedig bilden. Vor allem die Hinterseite des Palazzo, dort, wo die Bediensteten wohnten, die Küche lag und die Wirtschaftsräume, ruhte auf diesem festen Grund.
In die Nische eines alten, unbewohnten, verfallenen Hauses gedrückt, wartete Cramer, bis seiner Ansicht nach Cravelli eingeschlafen sein mußte. Dann ging er zu den drei hinteren Türen, die für die Lieferanten und Angestellten waren, und drückte jede einzelne Klinke herunter. Sie waren verschlossen. Eingehend untersuchte Cramer die Schlösser. Es waren uralte, aber ungemein sichere Verriegelungen, denen kein moderner Dietrich etwas anhaben konnte. Mit einem großen Schlüssel, der innerhalb des Schlosses zugleich als Hebel diente, bewegte man eine Eisenstange seitlich weg, die im geschlossenen Zustand zentimetertief in die dicke Steinmauer rastete.
Enttäuscht trat Cramer in die Nische zurück. Es war unmöglich, heimlich in das Haus zu kommen. Mit zusammengezogenen Brauen starrte er die hohe, dunkle Sandsteinwand herauf. In diesem Haus ist etwas, dachte er. Hinter diesen verwitterten Mauern verbirgt sich ein Geheimnis, das die Sonne des venezianischen Zaubers zu fürchten hat.
Langsam ging Cramer zu seiner Gondel zurück und fuhr aus den engen Kanälen hinaus auf die breiten Wasserstraßen, dem Stolz Venedigs.
Am Gemüsemarkt legte er an und stieg an Land. Wie vor hunderten Jahren Dante, so stand auch er jetzt in der Dunkelheit der Nacht, sah empor zum samtenen Himmel und auf die im milchigen Mondschein wie eine Theaterdekoration liegende Rialtobrücke. Wie mit Musik erfüllt war die Nacht, selbst das träge Klatschen des Wassers an den Kai war eine Melodie. Ein paar unbeleuchtete Gondeln mit verhängten Bänken zogen langsam durch das silberne Wasser. Die Liebesgondeln von Venedig, von denen schon Casanova träumte …
Er schreckte auf, als sich schlurfende Schritte näherten. Vom benachbarten Fischmarkt kam ein Händler auf ihn zu. Um den Hals trug er an einem Lederriemen einen breiten ›Bauchladen‹. Knöpfe, Zwirn, Gipsfiguren, kleine, bunt bemalte Gondeln, die Rialtobrücke in Messing, Aschenbecher mit dem Campanile, Zigaretten, Marzipan, Tabak, seidene Kopftücher mit dem
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