Die schweigenden Kanäle
Cravelli sprang eine wilde Angst hoch. Mit dem ganzen Gewicht seines Körpers stemmte er sich gegen die Tür, trat gegen den klemmenden Schuh und versuchte, die Tür zuzuschlagen. Aber der Unbekannte auf der Treppe war kräftiger. Ein Arm schob sich durch den Spalt, eine Hand drückte den vorstoßenden Kopf Cravellis weg, ein neuer, starker Ruck und die Tür schwang auf und krachte gegen die getäfelte Wand. Wie gelähmt stand Cravelli vor einer unkenntlichen dunklen Gestalt. Sie warf die Tür hinter sich wieder zu, schob den Riegel vor und ging an dem zitternden Cravelli vorbei in die Bibliothek. Er mußte sich gut auskennen in dem Gewirr von Türen, denn ohne Zögern öffnete er die richtige Tür, trat ein und knipste in der Bibliothek das Licht an.
Cravelli stürzte der Gestalt nach. Das plötzliche Licht machte ihm wieder Mut. Die bleierne Angst fiel von ihm ab. In der Tür zur Bibliothek blieb er stehen und starrte den unfreundlichen Besucher an. Er saß in einem der tiefen Sessel und hatte die Hände übereinander gelegt. Fast freundlich nickte er dem Italiener zu.
»Cramer –«, sagte Cravelli dumpf. »Rudolf Cramer –«
»Ich sehe, Sie wundern sich –«
»Zu so später Stunde, Signore! Und so unhöflich. Es ist nicht Ihre Art –«
»Lassen wir das, Cravelli!« Cramer sah Cravelli ernst an. Dieser wich seinem Blick aus und ging zu der eingebauten Bar, klappte die mit einem Spiegel belegte Mixplatte herunter und schob zwei Gläser und eine Flasche Whisky darauf.
»Whisky pur, wie immer?« fragte Cravelli. Seine Stimme war wieder fest und sicher wie immer. Cramer schüttelte den Kopf.
»Sie wissen … wenn ich trinke, gieße ich mir selbst ein!«
»Noch immer mißtrauisch, daß ich Sie vergifte?« lachte Cravelli. Er goß sich ein und machte eine zur Bar einladende Handbewegung. »Bitte, bedienen Sie sich, Signore. Sie sehen, ich trinke aus der gleichen Flasche –«
»Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.«
»Jederzeit, Signore. Aber nicht mitten in der Nacht. Das ist eine Zeit, die ich ausklammern möchte. Ich bin ein alter Mann, und von einem bestimmten Uhrzeigerstand ab sehne ich mich nach meinem Bett.«
»Ein armer Greis, wenn man Sie so hört, Cravelli.« Cramer stützte den Kopf in beide Hände und sah Cravelli lange an. Der Italiener wich diesem Blick aus und hantierte mit den Flaschen in der Bar. »Sie wissen, was mich bisher abhielt, Sie einfach zu erwürgen. Ohne Reue! Es drängt mich, Ihnen das jährlich mindestens einmal zu sagen … vor allem am Jahrestag, Sie wissen …«
Cravelli lächelte verzerrt. Er trank sein Glas leer und goß Whisky nach.
»Sie müssen viel unausgefüllte Zeit haben, Cramer. Was soll diese Dummheit überhaupt? Können Sie mir etwas nachweisen? Sie haben nicht gesehen, daß ich Ilona –«
Cramer hob die Hand und unterbrach Cravelli mit einer energischen Bewegung. Ruckartig stand er auf, und Cravelli griff unwillkürlich zu einer großen, geschliffenen Kristallflasche, um sich wehren zu können. Aber Cramer ging um den alten, riesigen Globus herum, als sei er mit einem Seil an ihm festgebunden.
»Sie wissen, wie ich Ilona liebte«, sagte er leise. Cravelli neigte den Kopf vor, um jedes Wort verstehen zu können. »Sie war Tänzerin im Opernballett –«
»Signore, das haben Sie mir über zwanzigmal erzählt. Was soll's!«
»– wir kannten uns seit unserer Anfangszeit auf der Bühne. In Basel heirateten wir, in aller Stille. In den Theaterferien. Unsere Hochzeitsreise machten wir nach Venedig …«
»Sie langweilen mich, Signore …«, sagte Cravelli und lehnte sich gegen die Bücherwand.
»Wir waren glücklich, Venedig war für uns ein Märchen, das ein Zauberer für uns ausgebreitet hatte. Wir lagen am Lido und sonnten uns, wir schwammen ins Meer hinaus, wir mieteten uns ein Motorboot, und Ilona jauchzte hell, wenn sie mit den Wasserskiern über das blaue Wasser ritt. Es war ein Lachen, es war eine Jugend und ein Glück, Tage, die ich nie vergessen werde. Nichts in der Welt hätte ich für diese Stunden eingetauscht … ich war wirklich der glücklichste Mensch der Welt. Ich war wunschlos. Kennen Sie das, Cravelli?«
»Wenn Sie stundenlange Selbstgespräche führen wollen … bitte, ich stelle Ihnen meine Bibliothek dazu zur Verfügung. Mich aber entschuldigen Sie. Ich bin müde.«
Rudolf Cramer blieb stehen. Sein harter Blick zwang Cravelli, an der Bar auszuharren.
»Sie wissen, wie es weitergeht?«
»Sie haben es mir oft genug
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