Die schweigenden Kanäle
Monsieur Cramer –«
»Er … er heißt gar nicht so?« stotterte Ilse. Es war ihr, als krampfe sich ihr das Herz zusammen und drücke alles Blut in den Kopf.
»Wir nennen ihn so. Er ist für uns Monsieur Cramer. Bitte, verraten Sie misch nischt, Mademoiselle …«
»Nein, nein … bestimmt nicht.« Ilse schüttelte den Kopf und trat hinaus auf den Gang. Noch immer war das Herz nur ein zuckendes Bündel. Ein falscher Name, dachte sie. Wer ist er wirklich? Und warum kümmert er sich um mich?
Sie nahm sich vor, ihn zu fragen … jetzt sofort, wenn sie ihm gegenüberstand. »Wer sind Sie wirklich?« wollte sie fragen. »Und warum tragen Sie einen anderen Namen? Warum haben Sie mich belogen?«
Sie blieb mitten auf dem Gang stehen und überlegte, ob sie das Kleid nicht ausziehen und ihm so gegenübertreten sollte, wie sie gekommen war. Die kleine Sekretärin Ilse Wagner, die man auf dem Bahnhof von Venedig vergessen hatte … Oder gab es einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden Dr. Berwaldts und dem Mann, der sich der Opernsänger Rudolf Cramer nannte?
Bei diesem Gedanken empfand sie plötzlich Mut. Sie warf den Kopf in den Nacken und fuhr mit dem Lift hinunter in die Palmenhalle. Langsam glitt sie auch an der bel etage vorbei, wo die Zimmer 8-10 lagen, in denen Dr. Berwaldt gewohnt hatte und wo noch immer seine Koffer standen.
In der Halle empfing sie Tanzmusik und das Gewimmel eleganter Damen und sie umschwärmender Männer. Ilse Wagner blieb in der Nische neben dem Fahrstuhl stehen und überblickte das ihr nur aus Filmen und Romanen bekannte ›große Leben‹. Es war ihr, als müsse sie sich in einen brandenden Ozean stürzen, wissend, daß sie nicht lange würde schwimmen können und in den Wellen unterging. Der kleine, wendige Geschäftsführer kam zwischen einigen Palmenkübeln auf sie zu. Er hatte sie entdeckt und sah es als seine Pflicht an, eine Dame nicht warten zu lassen.
»Verzeihung Signorina«, sagte er mit einer Verbeugung und einem Räuspern, das die Betrachtung Ilse Wagners unterbrach. »Es soll keine Belästigung sein … aber ich nehme an, daß Sie auf Signore Cramer warten …«
Ilse zuckte zusammen. Warum fragt er, dachte sie. Ist etwas geschehen? Vor einer halben Stunde hat er doch noch angerufen … »Ja, ich … ich … Er wollte mich hier erwarten …«
»Herr Cramer verließ vor einer halben Stunde das Haus …«
»Aber er –«
»In großer Eile, Signorina. Er rief mit lauter Stimme nach einer Gondel …«
»Herr – Cramer ist abgereist?« Es verschlug ihr die Sprache. Er ist weg, dachte sie. Und ich sitze hier mit hundert Mark. Morgen früh wird man mich wie eine Zechprellerin auf die Straße werfen …
»Aber nein! Nein!« Der Geschäftsführer hob beschwörend beide Hände. »Signore Cramer schien eine dringende Bestellung zu haben. Er wird bald zurückkommen. Es ist alles reserviert, Signorina …«
»Was ist reserviert?«
»Ihr Tisch im kleinen Salon, das Souper, die Weine … wenn Signorina jetzt speisen wollen –« Er winkte einem wartenden Boy in roter Uniform, der sofort herbeilief. »Tisch 12 im Salon«, sagte der Geschäftsführer und machte zu Ilse Wagner eine einladende Handbewegung. »Der Boy wird Signorina führen.«
Ilse Wagner nickte schwach. Was tun, dachte sie und blieb stehen. Wieder nach oben gehen … oder soupieren? Was war, wenn Rudolf Cramer nicht wiederkam … wenn alles ein übler Scherz gewesen war?
Eine wahnsinnige Angst stieg in ihr auf. Wie in einem unwahrscheinlichen, luxuriösen Gefängnis fühlte sie sich, in einem goldenen Labyrinth, aus dem es kein Entrinnen gab.
Was tun, was tun, was tun?, sagte sie sich immer wieder vor. Einfach weglaufen … wie dieser Cramer …? Aber wohin, mein Gott, wohin?
Der kleine Boy stand neben ihr und sah sie mit großen, erstaunten Augen an. Als sie auf ihn niederblickte, machte er einen tiefen Diener.
»Prego, Signorina –«
Flüchten, dachte sie wieder. Ich muß flüchten … es geht einfach nicht anders. In einer kleinen, billigen Pension übernachten, dann zu dem deutschen Konsul nach Mailand fahren … dafür reichte das Geld noch.
Und Dr. Berwaldt? Wo war Dr. Berwaldt?
Dieser neue Gedanke ließ alles Planen in ihr zusammenfallen. Ein winziger Funken Hoffnung war noch in ihr, und er glomm auf und bestimmte ihr weiteres Handeln: Vielleicht ist er morgen da … vielleicht konnte er wirklich nicht kommen und rechnete damit, daß ich so selbständig war, mich in Venedig für eine Nacht
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