Die schweigenden Kanäle
mir nichts gesagt. Und er ist weggelaufen! Was hat das alles zu bedeuten?! Warum versteckt man die Wahrheit vor mir?
»Wo … wo ist Herr Dr. Berwaldt jetzt?« fragte sie schwach.
»Signore Dottore ist seit gestern außer Haus. Er wurde abgeholt und bestellte für heute abend noch eine Gondel, weil er Besuch erwartete.«
»Das war ich –« sagte Ilse leise.
»Aber der Dottore kam nicht zurück. Er nahm auch einen kleinen Koffer mit. Vielleicht hat er anders disponiert? Sicherlich kommt er morgen wieder.«
»Bestimmt –«
Der Geschäftsführer entfernte sich lautlos und mit einem inneren Kopfschütteln. Schon am zweitnächsten Tisch hatte er den Vorfall vergessen und begrüßte eine platinblonde, üppige Schönheit in einem aufregend geschnittenen Kleid.
Für Ilse Wagner war der Abend beendet. Die Probleme, die dieses kurze Gespräch geschaffen hatte, stürzten auf sie ein und machten sie fast atemlos. Sie verließ den kleinen Salon, wunderte sich, daß kein Kellner sie anhielt oder ihr mit der Rechnung nachlief, sie erreichte ohne Anruf den Lift, zögerte, sah sich um und sah, daß niemand ihr folgte. Da fuhr sie hinauf zu ihrer Etage, gab dem Liftboy eine deutsche Mark und rannte dann den Gang hinunter in ihr Zimmer.
Françoise saß in einem Sessel und las in einem französischen Magazin. Sie sprang sofort auf, als Ilse ins Zimmer stürzte.
»Mademoiselle, wie sehen Sie aus!« rief sie entsetzt. »Ist etwas vorgefallen? Ganz verstört sind Mademoiselle –«
Ilse Wagner ließ sich auf das Bett fallen und schloß die Augen.
»Ich möchte schlafen …«, sagte sie schwach. »Schlafen und nichts mehr hören und sehen! Und morgen möchte ich zu Hause aufwachen … in Berlin, in meinem kleinen Zimmer, von dem aus ich die Dächer und den Wald der Fernsehantennen sehe und gegenüber in das Fenster von Fräulein Aurich, die morgens um sieben ihren kleinen, armen Studenten herausläßt … Ich möchte dieses ganze Venedig nicht mehr sehen –«
»Man hat Sie enttäuscht, Mademoiselle?«
»Man hat gar nichts … Das ist es ja. Gar nichts ist! Um mich ist Schweigen … und ich weiß nicht, warum!« Ilse richtete sich auf und sah in die großen, ungläubigen schwarzen Augen Françoises. »Sie können gehen, Françoise. Ich werde allein fertig. Gute Nacht …«
»Wann soll ich Mademoiselle wecken?«
»Überhaupt nicht … Solange ich schlafe, werde ich glücklich sein.«
Dann war sie allein … aber sie konnte nicht schlafen. Im Mondschein glitzerte das über den Sessel geworfene Kleid. Vom Canale Grande klangen Mandolinen auf. Irgendwo sang eine helle Stimme … unten in der Halle, in einer Gondel, auf der Straße, vor einem Fenster … sie sang und erinnerte Ilse Wagner an Rudolf Cramer, der ein Opernsänger sein wollte und der nicht Cramer hieß.
Sie sprang aus dem Bett, rannte zum Fenster und schloß es. Dann lehnte sie die heiße Stirn gegen die Scheibe und sah hinunter auf das glitzernde Wasser des Canale Grande. Nach wenigen Minuten spürte sie die Schwüle im Zimmer, die Hitze, die ihre Erregung noch vermehrte und Schweiß über ihren Körper trieb. Sie riß das Fenster wieder auf und breitete tief atmend die Arme in dem Luftstrom aus, der ins Zimmer flutete.
Über den Canale wehte ein kühlender Wind. Es roch nach Fisch und Fäulnis. Beleuchtete Gondeln glitten lautlos vorüber, nur das leise Klatschen der Ruder oder der Stoßstangen unterbrach die ruhige, schwerelos anmutende Fahrt. Der Gesang war verstummt … nur die Mandolinen klimperten irgendwo in der Nacht.
Ilse Wagner lehnte den Kopf an den Fensterrahmen. »Warum hast du gelogen …«, sagte sie leise. »Ob du Cramer heißt oder anders, ob du Opernsänger bist oder nicht … es wäre so gleichgültig gewesen … Ich hatte doch begonnen, dich zu lieben –«
Auf dem Campo San Polo, dem Marktplatz hinter der Kirche San Polo, fand in dieser Nacht eine merkwürdige Versammlung statt.
Aus den Gassen und Gäßchen des dunkelsten Venedigs, das nie ein Fremder sieht und durch die keine Vergnügungsgondeln fahren, aber auch vom Rialto, dem Campo di Tedeschi, dem Markusplatz, von den Säulengängen des Dogenpalastes her und der Piazetta, vom Bahnhof und dem Gemüsemarkt, aus den geheimnisvollen Vierteln der Altstadt trotteten zerlumpte Gestalten heran, huschten verwegene Figuren wie Riesenratten durch die Schatten der eng aneinandergerückten Häuser und tauchten unter in der Finsternis der kleinen Kirche.
Gipsfigurenhändler, Bettler, die sonst
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