Die schweigenden Kanäle
haben diese Spur in diesen schweigenden Kanal … man sollte auf dieser Spur bleiben …«
Cramer erhob sich, und jedesmal wiederholte sich ein Spiel. Mit großer Gebärde rief er: »Wo ist Dr. Berwaldt?!« Es machte auf die Italiener einen grandiosen Eindruck.
Gegen Mittag kam er ins Grand-Hotel ›Excelsior‹ zurück. Pietro Barnese stürzte ihm schon entgegen, als er kaum durch die Drehtür in die Halle gewirbelt kam.
»Signore!« schrie Barnese. Sein Gesicht war feuerrot. »Dreimal war die Polizei schon da! Man wollte Sie sprechen! Wo waren Sie denn?!«
»Ich habe dem Teufel eingeheizt!« Cramer sah sich um. In der weiten Palmenhalle standen die Gäste in Gruppen zusammen und diskutierten. Neuankömmlinge luden ihre Koffer vor der Rezeption ab. »Na, hat Ihr Haus gelitten? Wieviel Abreisen?«
»Zweihundertneunundzwanzig Neuanmeldungen!« stöhnte Barnese. »Signore … die Menschen sind verrückt! Sie reisen dem Verbrechen entgegen. Wir sind total ausverkauft!«
»Na bitte!« Cramer lächelte sarkastisch. »Wenn man jetzt noch in irgendeinem Winkel Ihres Ladens eine Leiche entdeckt, können Sie die Flure auch noch vermieten und Betten aufstellen –«
»Signore, malen Sie nicht das Unglück an die Wand.« Barnese wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die Polizei hat das Appartement von Dr. Berwaldt untersucht. Alles haben sie durchwühlt! Sie haben nichts, gar nichts gefunden, was irgendwie –«
Cramer sah Barnese verblüfft an. »Moment! Sie haben keinen Briefumschlag gefunden?«
»Nichts von Bedeutung.«
»Keinen Briefumschlag aus Venedig?«
Barnese riß seine schwarzen Augen weit auf. »Nein … auch keinen Umschlag aus Venedig. Wieso, Signore …«
»Merkwürdig!« Rudolf Cramer schüttelte den Kopf. Ich habe ihn in den Papierkorb zurückgelegt, dachte er. Man muß ihn gefunden haben. Er lag gleich oben auf … »Man hat das Zimmer genau durchsucht?«
»In jeden Winkel sind sie gekrochen. Sogar die Portieren mußten wir abnehmen, die Matratzen haben sie aus dem Bett genommen, die Sesselritzen aufgerissen, – ich war ja dabei und mußte das Protokoll unterschreiben! Einfach nichts haben sie gefunden –«
Cramer schüttelte wieder den Kopf. Das ist nicht möglich, dachte er wieder. So etwas kann man nicht übersehen! »Hat Fräulein Wagner –«, sagte er. Er brach ab und sah Barnese entsetzt an.
»Mein Gott! Ilse Wagner! Haben Sie sie schon gesehen?«
»O ja, Signore. Heute morgen. Sie hatte die Zeitung gelesen.«
»Und?«
»Sie fiel fast um.«
»Und … so reden Sie doch, Barnese!«
»Sie fragte nach Ihnen, Signore.«
»Und?«
»Ich sagte, Sie seien schon in aller Frühe zu den Redaktionen.«
»Sehr gut. Und was tat sie darauf?«
»Sie fuhr wieder auf ihr Zimmer.«
»Und da ist sie jetzt noch?«
»Nein. Gegen elf Uhr hat sie eine Gondel genommen, mehr weiß ich nicht –«
»Und sie ist noch nicht zurück?«
»Ich habe sie noch nicht gesehen –«
Ein Page, der neben der Tür stand, kam verschüchtert näher. Er sah Barnese wie um Verzeihung bittend an und rückte verlegen an seinem Käppi.
»Wenn ich etwas sagen darf –«, begann er.
»Du hast etwas gesehen, Junge?« schrie Cramer. »Du bekommst 1.000 Lire, wenn du –«
»Was ist?« knurrte Barnese. »Was weißt du?«
»Ich war einkaufen«, stotterte der Page. »Der Küchenchef hat mich weggeschickt. Ihm fehlte ein Gewürz. Ich lief also einkaufen, und da sah ich die Signorina. Ich erkannte sie an ihrem Kleid. Sie fuhr den Canale Grande hinauf … ich konnte sie genau erkennen …«
»Und dann … dann …« Cramers Stimme war gepreßt. Er ahnte, was nun kommen würde.
»Ja … ihre Gondel bog ab … in einen Seitenkanal … Das war das letzte, was ich noch sah …«
Rudolf Cramer gab dem Pagen mit zitternder Hand 1.000 Lire. Barnese schüttelte den Kopf. Er ist verrückt, dachte er. Cramer sah den Direktor mit verkniffenen Lippen an.
»Wissen Sie, wohin sie gefahren ist?! In den Canale Santa Anna –«
»Madonna mia!« stammelte Pietro Barnese. Er wurde fahl im Gesicht.
»Ein Motorboot!« schrie Cramer. Er rannte durch die Drehtür und winkte mit beiden Armen dem hoteleigenen Motorboot zu. »Los! Kommen Sie!« Barnese folgte ihm und winkte ebenfalls wie ein Irrer. »Hierher! Hierher!«
Cramer sprang mit einem weiten Satz an Deck. Er fiel neben dem Steuermann auf die Knie und klammerte sich an der Reling fest.
»Canale Santa Anna!« schrie er den Verblüfften an. »Mensch, rasen, fliegen, flitzen Sie! Es
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