Die schweigenden Kanäle
entflohenen Entsetzen.
Zwei Dinge raubten Cravelli an diesem Abend die Ruhe. Einmal die Aussprache mit Dr. Berwaldt nach dem Besuch Ilse Wagners und zum anderen ein Besuch, der noch spät am Abend lautstark Einlaß in den Palazzo Barbarino begehrte.
Cravelli war zunächst nach oben gestürzt und hatte die Tür aufgerissen. Dr. Berwaldt fiel ihm entgegen, mit blutigen, aufgeschlagenen Handballen, schweißbedeckt und wie von Sinnen. Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf den Italiener, aber Cravelli wehrte ihn mit einem langen Arm ab und stieß ihn in den Flur zurück.
»Sie Satan!« schrie Dr. Berwaldt außer sich. »Sie Satan!« Er stürzte wieder auf Cravelli und krallte sich in dessen Rock. »Wo ist das Mädchen?! Was haben Sie mit Ilse gemacht?!«
»Nichts.« Cravelli sah kopfschüttelnd Dr. Berwaldt an und löste dessen Finger von seinem Anzug. »Sie überschätzen mich anscheinend doch! Ich habe sie zurück ins Hotel gehen lassen …«
»Das glaube ich Ihnen nicht«, keuchte Dr. Berwaldt.
»Wenn es möglich wäre, würde ich Sie im Excelsior anrufen lassen. Aber ich weiß, daß Sie Dummheiten machen, deshalb geht es nicht. Signorina Wagner und ich haben nett zusammen gegessen, und dann ist sie wieder abgefahren.«
»Und … und …«
Cravelli nickte fröhlich. »Die Formeln, wollen Sie wissen? Die bringt sie mir morgen früh –«
»Das wird sie nie tun!« schrie Berwaldt.
»Es schien so, als sollten Sie recht behalten. Signorina Wagner hat eine sehr korrekte Dienstauffassung. Aber ich konnte sie überzeugen, daß es für Sie eine Überraschung sei, wenn wir bei Ihrer Rückkehr aus Florenz – Sie befinden sich gegenwärtig in Florenz, Dottore – Ihnen den fertigen Vertrag präsentieren könnten. Sie hat ein gutes Herz, die Signorina –«
»Ich habe noch nie den Wunsch gehabt, einen Menschen zu töten, mir wäre nie, nie ein solcher Gedanke gekommen … bei Ihnen wünschte ich mir, ich hätte die Gelegenheit, es zu tun!«
»Kommen Sie, Dottore, wir beide haben uns ineinander so verstrickt, daß unsere Leben untrennbar miteinander verbunden sind. Wenn Sie leben, werde ich leben … wenn Sie zu Grunde gehen, ist es auch für mich das Ende. Wir müssen das ganz klar sehen! Es gibt nur einen gemeinsamen Weg.«
»Die Wahl zwischen den Alternativen dürfte doch wohl klar sein, nicht wahr?« sagte er. Cravelli schüttelte den Kopf.
»Durchaus nicht. Wenn ich die Formeln habe –«
»Fräulein Wagner wird Ihnen die Mappe nie bringen, das weiß ich!« unterbrach er Cravelli.
»Sie täuschen sich.«
»Nein. Ich kenne meine Wagner –«
Cravelli wurde sichtlich unsicher. Was er bei sich schon längst befürchtet hatte, schien jetzt wirklich zu werden: Es war ein Fehler gewesen, Ilse Wagner gehen zu lassen. Zwischen jetzt und dem kommenden Morgen lagen so viele Stunden der Besinnung und des Nachdenkens, in denen Zweifel an der Wahrheit geboren werden konnten. Und der kleinste Zweifel, das wußte Cravelli, würde Ilse hindern, morgen früh die Akte in den Palazzo Barbarino zu bringen.
»Es gibt auch andere Möglichkeiten, Dottore«, sagte er dumpf.
»Die haben Sie verpaßt.«
»Noch nicht. Ich werde Ihnen in ein paar Stunden mehr sagen können –«
Schroff wandte sich Cravelli ab und verließ den Dachboden. Als er über den Flur ging, hörte er aus dem Krankenzimmer die beiden Frauen rufen. »Dottore! Dottore!« Er ging weiter, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern oder den Schritt zu verhalten. Sie waren für ihn uninteressant geworden. Lucia Tartonelli und Emilia Foltrano galten für ihn nicht mehr als die weißen Mäuse, die in dem Glasbehälter vergast worden waren. Sie waren Objekte, weiter nichts. Objekte, die jetzt ausgedient hatten. Ihr weiteres Schicksal kümmerte Cravelli nicht mehr. Höchstens einen kurzen Brief würde er schreiben müssen – »Leider konnte auch der neue Arzt in diesem Zustand nicht mehr helfen –«
In der Bibliothek ging Cravelli nachdenklich hin und her. Ab und zu sah er auf die alte, große Standuhr. Zwischen 11 und 12 Uhr nachts ist die beste Zeit, dachte er. Es fällt am wenigsten auf in dem gesellschaftlichen Gewühl, das im großen Saal und in der Halle des ›Excelsior‹ herrschen wird. Niemand würde ihn beachten oder anhalten.
Der dumpfe Schlag des Klopfers an der Tür schreckte ihn auf. Es war ein wildes Hämmern, unbeherrscht und wütend. Cravelli trat an das Fenster und sah zur Seite hinaus.
Auf der Marmortreppe stand klein, mit vom Wind zerzausten
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