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Die schweigenden Kanäle

Die schweigenden Kanäle

Titel: Die schweigenden Kanäle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Illusion bleibt?
    Einen ganz kurzen Augenblick nur spielte er mit dem Gedanken, Ilse Wagner einfach neben Dr. Berwaldt auf dem Boden einzusperren und sich mit Gewalt die Akten aus dem Hotel zu holen. Er spreizte schon die Finger, um sie um den weißen Hals des Mädchens zu krallen und zuzudrücken, wie er damals den Hals Ilona Szökes – Diese Erinnerung ernüchterte ihn völlig.
    Er ließ die Hände sinken und kam Ilse Wagner in die Halle nach.
    »Es war mir eine wirkliche Freude –«, sagte er heiser.
    Er begleitete sie zur Tür und entriegelte sie eigenhändig. In diesem Augenblick hörten sie ein schwaches Klopfen. Ilse Wagner hob erstaunt den Kopf. Woher es kam, war nicht festzustellen … ob aus dem Keller, hinter den Mauern, die Treppe herunter, von der Decke … es war ein rhythmisches Klopfen, das im ganzen Hause zitterte, vom Boden bis zur Decke.
    Cravelli wurde bleich. Sein freundliches Gesicht verhärtete sich unheimlich. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Ilse Wagner. Er war bereit, die Tür zuzuwerfen und sich auf sie zu stürzen, wenn sie jetzt eine verdächtige Frage stellte.
    Da war es wieder … ganz leise, aber wie eine Vibration durch das ganze Haus zitternd. Von der Decke kommt es, dachte Ilse. Es ist über uns.
    »Oben, im Rittersaal, wird eine Fußleiste angeschlagen«, sagte Cravelli leichthin. »Immer muß man an diesen alten Palästen renovieren. Es hört nie auf. Darf ich bitten, Signorina …« Er trat hinaus auf die Treppe zum Kanal.
    Als er schwieg, war es wieder zu hören. Es war ein bestimmter Rhythmus in diesen Schlägen, nicht, als wenn man einige Nägel in Holz treibt. Fast wie eine Melodie war es, kurz, kurz, kurz … Pause … lang, lang, lang … Pause … kurz, kurz, kurz.
    Ilse Wagner ging Cravelli nach und ließ sich bis zu der wartenden Gondel bringen. Cravelli warf dem Gondoliere einen großen Schein zu, geschickt fing dieser ihn auf und verbeugte sich.
    »Mille grazie, Signore!«
    »Zum ›Excelsior‹ …«
    Die Bettler um sie herum schwiegen. Cravelli beachtete sie nicht, als seien sie angespülte, tote Ratten. Er winkte der Gondel nach und wartete, bis sie um die Biegung zur Einmündung in den Canale Grande verschwand. Dann lief er in den Palazzo zurück und rannte die Treppe hinauf.
    Noch immer zitterte das ferne Klopfen durch das stille Haus. »So ein Idiot!« schrie Cravelli und sprang die Stufen empor. »Im letzten Augenblick –«
    Langsam glitt die Gondel durch das schwarze Wasser des Canale Santa Anna. Nur ein paarmal hatte Ilse zurückgewinkt. Dann saß sie da, blickte an der großen Fassade des Palazzo Barbarino empor und sah zurück auf den noch immer winkenden Sergio Cravelli.
    Dieses Klopfen, dachte sie. Dieser bekannte Rhythmus. So nagelt man keine Fußleiste an. Das war ein System des Klopfens, ein Zeichen, ein –
    Sie fuhr sich mit beiden Händen zum Mund, um den Schrei zu ersticken, der in ihr aufbrach. Die Erinnerung an eine weit zurückliegende Zeit kam zurück. Damals, vor Kriegsende, hatte man sie vom BdM aus in einen Lehrgang geschickt. Morsen sollte sie lernen. Ein paar Tage lang hatte sie das Morsealphabet gelernt … dann brach der Lehrgang zusammen im Feuer der russischen Artillerie. Aber einige Morsezeichen kamen jetzt in der Erinnerung zurück, vor allem das wichtigste und bekannteste von ihnen.
    Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz …
    SOS!
    Das Hilfezeichen! Der Ruf nach Rettung. Der Schrei in der Not! Hilfe! Hilfe!
    SOS!
    In dem Gemäuer des Palazzo Barbarino, irgendwo in dem Labyrinth von Zimmern und Kellern, hinter geheimnisvollen Wänden verborgen, saß ein Mensch und schrie um Hilfe.
    Ein lebendig begrabener Mensch.
    SOS!
    Dr. Berwaldt –
    In diesem Augenblick des Erkennens begriff Ilse Wagner auch die volle, grauenhafte Wahrheit. Mit einem wilden Schauer sah sie auf den Palazzo zurück, dem sie entronnen war, weil sie unbewußt die Mappe mit den Formeln für morgen früh versprochen hatte. Die Mappe, um die es allein ging.
    Noch immer stand Cravelli auf der Treppe und winkte.
    »Schnell –«, sagte Ilse mit tonloser Stimme. »Prego … presto – presto …« Sie wußte, daß es falsch war, der Gondoliere verstand es trotzdem. »Zum›Excelsior‹ … bitte, schnell, schnell –«
    Mit großen Stößen trieb der Gondoliere die Gondel durch das schwarze, faulig riechende Wasser.
    Das Lichtermeer des Canale Grande nahm sie auf. Aber Ilse sah es nicht … sie hatte die Hände vor die Augen geschlagen und weinte leise vor dem

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