Die schweigenden Kanäle
Auch er stand auf und kam um den Tisch herum.
Die Formel, dachte er. Wie bekomme ich die Formel. Es wird gar keine andere Möglichkeit geben, als sie gehen zu lassen.
»Wo sind Sie abgestiegen?«
»Im ›Excelsior‹.«
»Sie kamen direkt aus Berlin?«
»Ja.«
»Wie verlassen mußten Sie sich vorkommen … in Venedig angekommen, und keiner holt sie ab.«
»Ich war völlig ratlos.«
»Es ist unverzeihlich von Dottore Berwaldt! Ich werde ihm meine Meinung sagen. Wie kann man Sie vergessen?! Aber so sind sie, die lebensfernen Wissenschaftler –«
»Mir war das alles zunächst unerklärlich. Ich hätte nicht gewußt, was ich tun sollte, wenn mir nicht ein Herr seine Hilfe angeboten hätte.«
Cravelli lächelte nachsichtig. Natürlich, dachte er. Wie üblich in Venedig. Es gibt da eine gewisse Sorte von Männern, die tagaus, tagein nur auf dem Bahnhof oder auf dem Markusplatz herumstehen und darauf warten, ratlose junge Damen anzusprechen und ihnen zu helfen. Nur zu Ilse Wagner paßte dieses Bild nicht, dachte Cravelli. Sie ist nicht von dieser Sorte Italienreisender, die einem Pappagallo wie ein Hühnchen in die Hand flattert, sie mußte wirklich verzweifelt gewesen sein, und in ihrer Ratlosigkeit hatte sie den Worten eines solchen Burschen vertraut.
»Sie werden sich mit diesem hilfreichen Herrn treffen, nicht wahr?« fragte er. »Bitte, nehmen Sie mir diese Frage nicht übel.«
»Ja. Ich treffe ihn.«
»Dann haben wir noch etwas Zeit … er wird sicherlich warten.«
»Aber ich möchte ihn nicht warten lassen. Ich möchte vor allem nicht, daß er weiß, daß ich hier …« Sie schwieg, weil sie merkte, daß sie in eine große Dummheit hineingeglitten war.
Cravelli begriff sofort. Sein Gesicht wurde verschlossen.
»Wieso?« fragte er. »Ich wüßte nicht, wieso ein Besuch bei mir...«
»Es ist in den letzten Stunden soviel geredet und geschrieben worden.« Ilse Wagner versuchte, aus der Falle herauszukommen. »Man hat mich verhört, ich mußte Protokolle unterschreiben, ein Herr Cramer ließ mir keine Ruhe –«
»Ich weiß nicht, was ich damit zu tun habe, Signorina …«, sagte Cravelli steif.
»Gar nichts. Aber Sie werden damit zu tun haben, wenn man erfährt, daß ich bei Ihnen war. Noch weiß man nicht, daß Sie Dr. Berwaldt kennen und in Geschäftsverbindung mit ihm stehen … aber dann wird man es bald wissen. Ich glaube, das ist nicht in Ihrem Interesse …«
Cravelli sah Ilse Wagner erstaunt an. »Sie sind ein überaus kluges Mädchen!«
»Sie haben selbst gesagt, daß Dr. Berwaldt Wert auf eine Geheimhaltung legt.«
»Allerdings.« Cravelli lächelte wieder jovial. »Ich werde den Dottore zu solch einer Perle von Sekretärin beglückwünschen. Sie haben doch die Akten bei sich?« schoß er unvermutet seine Frage ab, die Frage, die in ihm war wie ein unterdrückter Vulkan.
»Welche Akten?«
»Unsere Verhandlungen kamen ins Stocken, weil Dr. Berwaldt einige wichtige Unterlagen nicht mitgebracht hatte. Er wollte sie durch Sie übermitteln lassen. Ich glaube, es sind Formeln oder dergleichen. Dottore Berwaldt braucht sie für seine Erfindung und zur Demonstration –«
Ilse Wagner nickte. Zweifel, die in ihr aufgekommen waren, verschwanden wieder. Die Erwähnung des Aktenstücks und der Formeln bewies, daß Cravelli tatsächlich mit Dr. Berwaldt in enger Geschäftsverbindung stand. Nie hätte sonst Berwaldt ein Wort von seinen Formeln erwähnt, noch weniger, daß sie, Ilse Wagner, beauftragt war, diese Geheimmappe nach Venedig zu bringen. Das konnte nur ein gut Eingeweihter wissen.
»Es stimmt«, sagte sie. In Cravelli platzte das Herz vor Glück. »Sie sind mit Dr. Berwaldt so gut bekannt, daß –«
»Wir sind Freunde, Signorina!« rief Cravelli enthusiastisch. »Nur wegen seiner Unabhängigkeit, die er ja – wie wir wissen – über alles liebt, zog er in das Hotel ›Excelsior‹ und nahm mein Angebot, bei mir zu wohnen, nicht an. Und dann das Fiasko mit den vergessenen Formeln! Unsere Partner aus Amerika und Kanada – ein großer pharmazeutischer Konzern! – ließen sich zwar überzeugen, aber es fehlte ja die wissenschaftliche Grundlage. Der rechnerische Beweis! Die Formel! Es war zum Verzweifeln. So nahe am Ziel –«
Ilse Wagner nickte wieder. »Ich habe die Pläne mitgebracht –«
Nicht zittern, sagte Cravelli innerlich zu sich. Nicht schreien vor Freude. Nicht in der Sonne, die in mir aufglüht, verbrennen! Ganz ruhig bleiben, gelassen und fast gleichgültig.
Er wandte
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