Die schweigenden Kanäle
Gelegenheit geben.
In der Halle trank Cramer einen Whisky und hinterher einen Schwarzen Johannisbeersaft, um den Alkoholgeschmack aus seinem Mund zu bekommen. Mißmutig betrachtete er die Gäste in Abendkleid und Frack, die aus überdeckten Gondeln ausstiegen. Irgendein Industriemagnat gab eine Gesellschaft im Mittelsaal. Blumenkörbe wurden hereingetragen, Orchideen in Plastikkartons, Rosen in Frischhaltebeuteln.
»Kummer, Signore?« fragte der Barkeeper.
»Warum?«
»Weil Sie Saft trinken …«
»Sie sind ein Psychologe, Charly.« Cramer ging in die Halle zurück und setzte sich unter die Palmen. Eine Wolke aller bekannten Parfüms umwehte ihn, ein Millionenvermögen wurde an Hälsen und Armgelenken an ihm vorbeigetragen.
Zehn Minuten früher öffnete sich die Lifttür und Ilse Wagner kam auf ihn zu. Sie sah in ihrem rohseidenen Kleid mit den langen braunen Locken und der schlanken Figur schöner aus als die glitzernden Damen in den teuren Abendroben. Cramer biß sich auf die Unterlippe. Warum lügt so etwas Schönes, dachte er verbittert.
»Unwahrscheinlich pünktlich!« Cramer faßte sie unter und verließ mit ihr das Hotel. Eine bestellte Gondel wartete an einem der blauweißen Anlegepfähle des Hotels. Ein Boy half ihnen in den Kahn, stieß ihn mit einer langen Stange in den Kanal und winkte ihnen zu. Cramer stand an dem großen Ruder und steuerte die Gondel in die Mitte des Wassers, wo sie sich in den Schwarm der anderen Gondeln eingliederte. Bunte Laternen wippten an Bug und Heck, aus einem der umgebenden Kähne klang leise, zärtliche Musik durch die Nacht.
»Herrlich!« sagte Ilse und lehnte sich in die Polster zurück. »Du kannst rudern wie ein echter Gondoliere. Wenn du auch so singen kannst –«
Sie sah ihn mit großer Erwartung an. Wenn er ein Sänger ist, wird er jetzt beginnen. Aber Cramer schwieg. Er starrte in die Dunkelheit vor sich und ruderte mit gleichmäßigen Bewegungen.
»Es ist wie ein Märchen –«, sagte Ilse enttäuscht.
»Unser Märchen, Ilse. Aber es soll kein Märchen sein, das mit ›Es war einmal‹ beginnt, sondern mit ›Es wird einmal sein‹ –«
Sie nickte. »So vieles ist märchenhaft –«, sagte sie doppelsinnig.
Cramer nickte. »Fast alles um uns herum.« Dann schwiegen sie wieder. Stumm ruderte er die Gondel an anderen Gondeln vorbei, auf denen das Licht gelöscht war. Winzige Liebesinseln auf der leicht bewegten Wasserfläche.
Vereinzelte Lichter glitzerten vor ihnen auf. Ein dunkler, massiver Fleck schälte sich aus der Nacht. »Was ist das?« fragte Ilse.
»Die Isola Poveglia. Wir haben uns gedreht und fahren wieder zurück zu ihr. Ich will dir dort etwas zeigen. Die Insel hat eine schöne kleine Kirche …«
Nach einigen Minuten knirschte der Kiel des Bootes im Ufersand. Cramer sprang zuerst an Land und half Ilse aus der Gondel. Ein paar Schritte mußte er durch knietiefes Wasser laufen und trug sie auf seinen Armen. Sie blickte zurück zum Boot. Das große Ruder stach steil in den Nachthimmel.
Gleich über ihnen war die kleine Kirche. Cramer nahm Ilses Hand und ging mit ihr die wenigen Schritte hinauf. Die Tür war nicht verschlossen, sie knirschte leise, als Cramer sie aufklinkte. In dem kleinen Raum vor dem Altar brannte das ewige Licht. Sonst war es dunkel. Nur der Mond schien durch die bunten Bleifenster und zauberte bizarre Ornamente auf den steinernen Fußboden, die alten, geschnitzten Bänke und die weiße Altardecke aus handgeklöppelten Spitzen.
Cramer ging bis zur ersten Bank und zog Ilse mit. Dort setzte er sich und legte den Arm um ihre Schulter. Eine ganze Weile saßen sie stumm und starrten auf das ewige Licht und die von goldenen Strahlen umgebene Marienstatue.
Plötzlich erhob sich Cramer, ein Streichholz flammte auf, und dann brannten zwei lange Kerzen rechts und links vom Altar. Ihr flackernder Schein geisterte über Ilses Gesicht. Es war bleich und schwamm in einem Meer von Fragen, als Cramer zu ihr zurücktrat und sich wieder neben sie setzte.
»Hier bin ich jedes Jahr um diese Zeit«, sagte er leise, aber der unerwartete Klang seiner Stimme war in der vollkommenen Stille wie ein Donner. Ilse zuckte zusammen und tastete nach seiner Hand. Er nahm sie und hielt sie fest, während er weitersprach.
»Heute, an diesem Tag vor zehn Jahren, starb Ilona Szöke –«
Ilse spürte, wie ein kalter Schauer über sie lief. Sie wollte ihm ihre Hand entreißen, sie wollte aufspringen und weglaufen, schreien vor Angst wollte sie … aber
Weitere Kostenlose Bücher