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Die schweigenden Kanäle

Die schweigenden Kanäle

Titel: Die schweigenden Kanäle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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er hielt sie fest, und sie hatte auch gar keine Kraft mehr, ihm die Hand wegzureißen.
    »Ja –«, stammelte sie.
    »Ilona war meine Frau –«
    »Deine –« Ihre Stimme versagte.
    »Wir machten unsere Hochzeitsreise nach Venedig. Unsere erste und letzte Reise. Heute vor zehn Jahren fuhr sie mit einer Gondel weg und kam nicht wieder. Du weißt, daß sie später aufgefischt wurde. Ermordet.« Cramer schloß die Augen und lehnte den Kopf zurück. »Einen Tag vor ihrem Tod waren wir hier. Wir haben hier gesessen, wo wir jetzt sitzen … auf der gleichen Bank, auf der gleichen Stelle, und auch damals war eine milde Sommernacht, es war still wie im Paradies … Wir hielten uns an den Händen wie wir … und wir waren so glücklich, so unendlich glücklich. Damals habe ich gesungen in dieser Stunde –«
    »Gesungen –«, sagte Ilse kaum hörbar.
    »Ja. Es war ein Dank für dieses Glück, das ich bekommen hatte. Heute möchte ich singen, um dieses Glück noch einmal bitten …«
    »Um welches Glück?«
    »Um das Glück, vertrauen zu können. Um das Glück, lieben zu können. Um … um …«
    Er sprang auf und rannte durch die Bänke weg. Ilse wagte nicht, ihm nachzurufen … sie saß wie erstarrt vor dem Altar und faltete ängstlich die Hände. Bitte, bitte, dachte sie. Hilf mir, was auch geschehen mag …
    Irgendwoher, aus den Mauern, hinter dem Altar, von der Decke oder aus dem Nachthimmel quoll ein Ton auf, wurde lauter und gebar neue Töne, wurde zur Melodie und zum Gebet. Eine kleine, alte Orgel spielte, mit zitternden Pfeifen und brummelnden Bässen. Aber ihr Klang war so zauberhaft, daß die Töne über Ilse zusammenschlugen wie eine Woge.
    Dann plötzlich, in den Klang der Orgel einschwebend und lauter und kräftiger werdend, sang eine Stimme. Sie wurde mächtig und erfüllte den Raum, eine herrliche, volle Tenorstimme, mit einer Reinheit, als seien die Töne aus Glas und klängen aus sich heraus wie kristallene Glocken.
    Langsam senkte Ilse den Kopf auf die gefalteten Hände und schloß die Augen. Verzeih mir, sagte sie leise. Bitte, bitte verzeih mir … Als Orgel und Stimme schwiegen, war es Ilse Wagner, als friere sie, als sei eine helle Wärme von ihr genommen, als sei sie ausgesetzt in eine dunkle Einsamkeit. Erst, als Cramer wieder neben ihr saß und ihre Hand nahm, wußte sie, daß die Wirklichkeit wieder um sie war.
    »Wer … wer bist du …?« war das erste, was sie fragen konnte.
    Cramer sah sie groß an. »Ich heiße Rudolf Cramer«, sagte er. »Aber nur wenige wissen, daß ich so heiße. Mich kennen sie alle nur als Gino Partile …«
    »Partile …« Ilse Wagner starrte Cramer mit weiten Augen an.
    »Du … du bist Partile …«
    »Ja. Der große Partile mit dem traurigen Herzen. Rudolf Cramer, der jedes Jahr um diese Zeit nach Venedig kommt, um an seine Ilona Szöke zu denken.« Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht, als wolle er ein Bild, das er zehn Jahre vor Augen hatte, wegwischen. »Zum erstenmal sitze ich hier mit einer anderen Frau … und ich habe keine Gewissensbisse. Ich weiß, daß Ilona in dieser Stunde zu verblassen beginnt und ein neues Bild voll und ganz von mir Besitz ergreift … Darum bin ich hierher gefahren, wo einmal mein Leben begann und endete und nun wieder beginnen soll … Nicht der große Gino Partile, sondern der unbekannte Rudolf Cramer. Ein seit zehn Jahren armer, einsamer Mensch, dem die Menschen auf der Bühne zujubeln und der sie gar nicht sieht, weil er mit jeder Arie einen Teil seiner Vergangenheit wieder aufriß. Nun wird es anders sein … jetzt wird jeder Abend ein Schritt mehr in die Zukunft sein.« Er ergriff Ilses Hände und hob sie hoch an seine Brust. »Willst du meine Frau werden –«
    »Rudolf«, stotterte Ilse. »Gino … Rudolf …«
    »Ich kann dir nicht mehr sagen, als daß ich dich liebe –«
    »Liebe ist Vertrauen –«, sagte sie leise.
    »Ja«, sagte er stockend. »Ich will dir blindlings vertrauen.«
    »Ich muß dir gestehen, daß ich es bis zu dieser Minute nicht getan habe. Ich habe dich verdächtigt … ich … ich … es ist so gemein von mir … Ich wußte, daß du nicht Cramer heißt …«
    »Wer hat dir das gesagt?«
    »Direktor Barnese.«
    »Er hat mir nie etwas davon gesagt!«
    »Nein. Er hatte einmal in Zürich, wo du angeblich singen würdest, angefragt. Der Brief kam zurück. Rudolf Cramer an der hiesigen Oper unbekannt. Aber er schwieg …« Ilse Wagner legte den Kopf an Cramers Schulter. »Der große Gino Partile und

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