Die Schwere des Lichts: Roman (German Edition)
diesen Worten.
– Lillian Rose Caulfield, 1952, 31. Dezember
Es war ein Tagebuch, ein in Leder gebundenes Tagebuch, das meine Mutter von ihrer Großmutter erhalten hatte, meiner Urgroßmutter. Ich zählte nach – 1952 war meine Mutter zwölf gewesen.
Ich blätterte schnell durch und sah, dass sie immer nur einmal im Jahr etwas geschrieben hatte – immer am Silvesterabend.
Dann las ich die erste Seite:
Ich habe immer gewusst, dass ich anders bin. Großmutter hat mir dieses Tagebuch gegeben, weil sie es auch weiß – sie kennt das Gefühl. Sie hat gesagt, ich kann hier drin mein Leben »schreiben«. Jedes Jahr an Silvester kann ich aufschreiben, was ich mir für das kommende Jahr wünsche.
Die Handschrift meiner zwölfjährigen Mutter war gewunden und schief, manchmal hatte sie Herzen anstelle von I-Punkten gemalt. In meinen Händen hielt ich das Leben meiner Mutter seit ihrem zwölften Lebensjahr.
Hinten im Tagebuch waren ein paar Dinge eingelegt. Verwirrt und wie entrückt, als hätte man mir erlaubt, den Sternenhimmel zu durchwandern oder unter Wasser zu atmen, nahm ich eines nach dem anderen in die Hand. Ein Bild, das ich mit neun gezeichnet hatte, ein zerrissenes Blatt Papier mit etwas, das wie ein Gedicht aussah, einen vergilbten und faltigen Umschlag mit Mutters Adresse,noch einen Brief, diesmal von Mutter beschriftet, in einem nie abgeschickten und nicht adressierten Umschlag.
Ich hatte sie verloren, um sie zu finden.
Auf dem Rücken liegend, starrte ich hoch zur Decke im Schlafzimmer meiner Eltern mit dem großen Kristallleuchter direkt über meinem Kopf. Ich wollte Hutch anrufen und flüstern: »Ich habe eine geheime Seite meiner Mutter entdeckt.« Aber ich rief nicht an.
Mutters Tagebuch lag unter meiner linken Hand, und obwohl ich Dads Schritte näher kommen hörte, rührte ich mich nicht. Er stand vor mir. »Ellie, alles okay?« Ich nickte, oder glaubte zumindest zu nicken, aber es folgte keine Bewegung. »Käferchen, ist wirklich alles in Ordnung?«
»Hast du gewusst, dass Mutter ihr ganzes Leben in einem Tagebuch aufgeschrieben hat?« Ich wandte ihm den Kopf zu.
»Ich habe es vermutet.« Er nahm meine Hand und zog mich hoch.
»Was heißt das?«
»Na ja, sie hat jedes Jahr an Silvester in dieses Buch geschrieben« – er zeigte darauf – »dabei hat sie immer an derselben Stelle oben an der Treppe in der Nische gesessen. Danach hat sie es wieder weggeschlossen. Nur ein Jahr hat sie ausgesetzt. Deswegen sind wir Silvester nie ausgegangen. Sie hat mich auf Leben und Tod schwören lassen, es nie zu lesen. Ich habe es versp
»Für mich hast du es nicht versprochen, oder?«, fragte ich.
»Nein.« Er schüttelte den Kopf, wandte den Blick ab. »Ich glaube, ich könnte es gar nicht lesen. Der Verlust ist so schon zu groß. Ich kann nicht …« Er hielt inne.
»Was kannst du nicht? Etwas Unbekanntes von ihr erfahren?«
Er sah mich an mit einem Ausdruck des Schmerzes um die Augen, den ich noch nie gesehen hatte. »Sie hat mich alles von sich wissen lassen, was ich wissen sollte. Mehr brauchte ich nicht, Ellie.«
»Mir hat das nicht gereicht«, sagte ich und schloss die Finger fester um das Tagebuch.
»Reicht es je?«, fragte er, die Hände flehentlich ausgestreckt.
»Ich hoffe schon, Dad.«
Schweigen füllte den Raum zwischen uns, bis ich fragte: »Wie war’s beim Golf?«
»Schön«, sagte er.
Er ging in das Ankleidezimmer. Die leeren Bügel klapperten, dann kam er ins Schlafzimmer zurück, den Blick gesenkt, als ließen sich so Tränen und Trauer aufhalten. »Danke«, sagte er.
»Gern geschehen.« Ich umarmte ihn.
Er erwiderte die Umarmung, war aber so angespannt, als hätte sein Körper Mühe, nicht auseinanderzufallen.
»Dad, ich muss dich was fragen.«
»Was du willst.«
»Weißt du irgendwas darüber, dass Mutter mal in der Bürgerrechtsbewegung aktiv war?«
»War sie nicht.«
»Sicher?«
»Ellie, wir waren fast seit Anbeginn jener Zeit zusammen, und … nun, sie hat sich dafür interessiert, war aber nie aktiv dabei.«
»Na ja …«
Er hob die Hand, trat dann einen Schritt zurück undsah erst mich, dann das lederne Buch an. »Das kannst du mitnehmen.«
»Das hatte ich vor.« Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Ellie?« Er starrte aus dem Fenster.
»Ja?«
Er sah mich an, Tränen standen ihm in den Augen. »Was soll ich bloß mit ihrem Garten machen?«
rochen.«
F ÜNF
Z u Hause nahm ich mir Mutters Tagebuch vor. Alles andere konnte warten. Rusty war an dem
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