Die Schwere des Lichts: Roman (German Edition)
Abend ausgegangen, das Abendessen mit Sadie hatte ich abgesagt. Ich ließ mich auf der Chaiselongue im Wintergarten nieder und begann zu lesen. Ich war entschlossen, die ganzen siebzig Jahres ihres Lebens in einer Nacht zu lesen, ich wusste genau – ich würde nicht eher aufhören, bis ich am Ende angekommen war.
Aus den frühen Einträgen ging hervor, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der es Mutter egal gewesen war, wo sie wohnte, was sie anzog, wen sie heiratete, wo sie Urlaub machte oder welchem Country Club sie angehörte. Sie tobte durch die Gegend, schrieb nächtelang Geschichten auf, fluchte. Sie liebte und umsorgte ihre Mutter, sie brauchte die Liebe ihrer Mutter. Es hatte Momente und vielleicht sogar ganze Jahre gegeben, in denen ihr Bücher und Geschichten und Lachen wichtig gewesen waren.
Dann begannen die Jahre ihrer Liebe zu dem Mann, der ihr schließlich das Herz brechen sollte. Er wurde nur als »Er« erwähnt, nie wurde sein Name genannt.
Ich las und las, versunken auf dem Sofa liegend, die Sonne ging unter, das einzige Licht im Haus kam von der Leselampe hinter meiner Schulter. Ich las über ihre Kindheit und ihre Wünsche, über Herzensdinge und ihre Familie und über »Ihn« – den Mann ohne Namen, den sie begehrt hatte und der sich schließlich anders entschieden und ihr seine Liebe entzogen hatte.
Sie war in ihrem Bericht gerade zwanzig, als Rusty nach Hause kam. Seine Schritte hallten durch das leere Haus, ich wusste, welchen Weg sie nehmen würden – erst in die Küche, wo er den Kühlschrank aufmachte und sich eine Flasche Wasser nahm, dann zum Schlafzimmer, wobei er die Krawatte lockerte, gähnte, sich die Bartstoppeln kratzte. Dann würde er leise das Schlafzimmer betreten, das leere Bett dort wahrscheinlich nicht einmal bemerken und ins Badezimmer gehen, um sich die Zähne zu putzen.
Ich wartete ab, ohne weiterzulesen, sicher, dass er mich irgendwann suchen würde, und so war es auch. »Ellie?«, rief er durch den Flur.
»Ich bin im Wintergarten«, gab ich zurück und wartete.
Dann stand er in der Tür und legte den Kopf schief. »Du liest?«
»Ja«, sagte ich.
Er sah auf die Uhr. »Es ist Mitternacht.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Geh schon ins Bett. Ich komme, wenn ich fertig bin.«
»Okay«, sagte er. »Aber ich schlafe dann schon. Sei bitte leise, wenn du kommst. Ich habe morgen einen harten Tag.«
Als ich das Tagebuch zuklappte, war die Sonne zwar noch nicht aufgegangen, aber sandte bereits ihre Vorboten durch die Holzlamellen der Fensterläden, zarte Streifen goldener Dämmerung, die den neuen Tag ankündigten. Ich hatte auf dem Sofa im Wintergarten abwechselnd gedöst und mich durch das Leben meiner Mutter gelesen: ein Leben, von dem ich nichts geahnt hatte. Ich hatte eine Frau entdeckt, mit der ich zusammengelebt, die ich Mutter genannt und die ich nie wirklich verstanden hatte, eineFrau, die ein glückliches Leben wollte, die ihre Jahre sorgfältiger plante, als viele Städte geplant werden, und die dennoch einsehen musste: Liebe lässt sich nicht erzwingen.
Sie war eine Frau, die sich aktiv in der Bürgerrechtsbewegung beteiligte, aufs College ging und liebte und trank und lachte und am Ende beschloss, dass nur eiserne Perfektion sie durch das Leben bringen würde.
Jeden Silvesterabend zog sie Bilanz des vergangenen Jahres, manchmal in ganzen Geschichten, manchmal in nur wenigen Zeilen, und am Ende schrieb sie dann ihre Ziele für das kommende Jahr auf. Sie verglich jedes Jahr die Wünsche und Ziele, die sich erfüllt hatten oder erreicht worden waren. Ab ihrem zwanzigsten Lebensjahr blieb ein Wunsch immer unerfüllt: Dies ist das Jahr … in dem Er mich lieben wird.
Ihre Großmutter hatte ihr aufgetragen, jedes Jahr am Neujahrsabend in der Nische unter dem mit einem Engel bemalten Fenster in ihr Tagebuch zu schreiben. Oft schrieb Mutter an diesen Engel, aber meistens an sich selbst.
Dann waren da auch noch die Zeichnung, die ich als Neunjährige gemacht hatte, und das zerrissene Gedicht, doch ihren handgeschriebenen Brief konnte ich nicht zu Ende lesen. Er war für jemand anderen bestimmt, und nach den ersten paar herzzerreißenden Worten faltete ich ihn wieder zusammen und nahm mir vor, ihn eines Tages dem Mann zu geben, an den ihre Worte gerichtet waren. Warum sonst hätte sie mir all das hinterlassen?
Ich setzte mich auf und streckte mich. Ich fluchte – was ich normalerweise nicht tue, aber jetzt schien es absolut angemessen.
»Was?« Rustys Stimme
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