Die Schwere des Lichts: Roman (German Edition)
sich ineinander und wieder auseinander, Anfang und Ende waren nicht zu erkennen, es begann dort, wo der Blick hinfiel, und verlief im Nirgendwo.
Die Frau fuhr fort: »Die Mönche brauchen Tage dafür. Sie arbeiten jeden Tag stundenlang daran und meditieren dabei.«
Ich sah abwechselnd die Frau und das Sandmuster an. »Und wenn jemand auch nur hustet und alles zerstört? Warum passt keiner darauf auf? Ein Windstoß würde reichen. Ein Atemzug.«
»Genau.«
Sadie stellte sich an meine Seite. »Gleich geht hier eine Zeremonie los. Willst du weg?«
»Nein.« Ich zeigte auf das Muster. »Sieh dir das an. Sieh richtig hin. Du kommst nicht davon los. Man kann gar nicht alles aufnehmen. Und diese Mönche haben das in den letzten Tagen aus Sandkörnern geschaffen.«
Sadie und ich betrachteten das Mandala, bis eine Frau darum bat, Platz für die hinten Stehenden zu machen. Wir traten zurück und fanden ein paar Stühle an der Wand. Fenster erstreckten sich über die gesamte Höhe der Kapelle, das Licht strömte herein, als würde es von dem Mandala in der Mitte magisch angezogen.
»Bestimmt hat jedes einzelne Element eine eigene Bedeutung«, sagte ich.
»Ja.« Sadie zeigte auf eine Gruppe Mönche, die soeben hereinkam. »Ich glaube kaum, dass sie tagelang etwas machen, das keinen Sinn hat.«
Die Mönche betraten in einer Prozession den Raum. Sie trugen gelbe Gewänder und Hüte mit großen Federn,die mich an die falschen Römersoldaten vor dem Kolosseum denken ließen. »Was passiert jetzt?«
Sie zuckte die Achseln.
Der Mönch mit dem Namensschild griff zum Mikrofon und erklärte in fehlerhaftem, aber ruhigem Englisch das Mandala, dass es über Tage in meditativer Stille geschaffen worden sei, wie der Sand durch einen Metalltrichter gelaufen sei, dass das Muster eine äußere, eine innere und eine geheime Bedeutung habe, dass seine Zerstörung die Vergänglichkeit von allem symbolisiere, dass der Sand zusammengefegt und in den Fluss geworfen werden würde als Symbol der Heilung.
»Zerstörung?«, flüsterte ich Sadie ins Ohr.
»Vielleicht lässt man den Sand allmählich verwehen.«
Von der Eingangstür der Kapelle aus gingen die Mönche den Mittelgang entlang zum Altar, dort nahm sich jeder ein Instrument. Sie stellten sich in einer Reihe vor dem Mandala auf, dann begann der in der Mitte stehende Mönch in seiner Kehle ein tiefes, summendes Geräusch zu erzeugen, das die Kapelle und meine Brust vibrieren ließ. Ein Kribbeln lief von meinem Herzen aus durch meinen Körper. Die übrigen Mönche stimmten ein, und in den zehn Minuten ihres Gesangs verlangsamte sich mein Herzschlag. Ich schloss die Augen. Während die Mönche ihren heiligen Segen sangen, war ich still und gelassen.
Dann ertönten ein lauter Gong, krachende Zimbeln, eine Glocke. Ich schreckte hoch und öffnete die Augen. Meine Brust schien sich auszudehnen. Etwas, das nach einem Dudelsack klang, aber keiner war, stimmte eine eindringliche Melodie an, und das tiefe Summen wurde zu einem wunderschönen Gesang, wie ein Schlaflied.
Ein Mönch löste sich aus der Gruppe. Das Mandalaumschreitend, füllte er den Raum mit dem hellen Klang einer einzigen Glocke in seiner Hand – endlose Geduld, die sich über Zeit und Raum erstreckt.
Ich lächelte, da hob der Mönch seinen Finger, ich wusste, was er jetzt tun würde, und sprang auf. Sadie packte mich am Arm. »Ellie«, flüsterte sie.
Ich sah sie an. »Nein«, sagte ich und machte einen halben Schritt auf den Mönch zu, um ihn davon abzuhalten, das Werk von Tagen zu vernichten. Etwas, was tief in mir lag und zerbrochen war, wollte verhindern, dass der Mönch den Sand verwischte, diese heilige Schönheit, die die Mönche erschaffen hatten. Ich wollte nicht, dass er etwas vernichtete, dessen Existenz ich vor einer Stunde noch nicht einmal etwas geahnt hatte.
Blicke wurden auf mich gerichtet, ich war wieder in meinem Körper und in der Kapelle. Ich setzte mich und wusste, dass ich nicht aufhalten oder ändern konnte, was jetzt geschehen würde. Der Mönch zog seinen Zeigefinger von links in die Mitte des Mandalas. Er teilte das Muster in sechs Tortenstücke auf und fegte dann das ganze Gebilde mit einem Handfeger zu einem kleinen Haufen mitten auf dem Tisch zusammen. Die übrigen Mönchen kamen hinzu und schütteten den Sand in kleine Tüten, die sie an die Anwesenden verteilten – »zur H
»Warum machen die das?«, fragte ich.
Die Frau neben mir drehte sich um und lächelte. »Es symbolisiert die
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