Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
starrte ich auf den Kopf meines Onkels, der ins Stroh rollte, und auf den blutroten Strom aus dem Hals. Der Scharfrichter mit der schwarzen Kapuze legte das große, blutverschmierte Beil aus der Hand und hob den abgeschlagenen Kopf am dicken, lockigen Haar hoch, so daß wir ihn alle sehen konnten: Eine schwarze Binde verdeckte Stirn und Nase, darunter waren die Zähne zu einem letzten trotzigen Grinsen gefletscht.
Langsam stand der König auf, und ich dachte in meinem kindlichen Gemüt: Großer Gott, wie furchtbar peinlich das wird. Er hat zu lange gewartet. Es ist alles schiefgegangen. Er hat vergessen, rechtzeitig einzugreifen.
Aber ich irrte mich. Er hatte nicht zu lange gewartet, er hatte nichts vergessen. Er wollte, daß mein Onkel vor den Augen des gesamten Hofstaats starb, damit alle wußten, daß es nur einen König gab, nämlich Henry. Es konnte nur einen König geben, nämlich Henry. Und diesem König würde ein Sohn geboren werden – etwas anderes auch nur anzudeuten, bedeutete einen schmählichen Tod.
Schweigend ließ sich der Hofstaat in drei Barken flußaufwärts zum Palast von Westminster zurückrudern. Einige Männer am Flußufer zogen den Hut und fielen auf die Knie, als die königliche Barke mit flatternden Wimpeln rasch an ihnen vorüberglitt. Ich saß mit den Hofdamen in der zweiten Barke, der Barke der Königin. Meine Mutter war in meiner Nähe. In einem seltenen Augenblick der Anteilnahme blickte sie zu mir herüber und bemerkte: »Du bist sehr blaß, Mary, ist dir übel?«
|10| »Ich hätte nicht gedacht, daß er wirklich hingerichtet würde«, erwiderte ich. »Ich dachte, der König würde ihn begnadigen.«
Meine Mutter beugte sich ganz nah zu meinem Ohr, damit niemand uns über das Knarren des Bootes und die Trommeln der Ruderer hinweg hören konnte. »Dann bist du eine Närrin«, meinte sie knapp. »Und schlimmer noch, du sprichst es auch noch aus. Schau nur gut hin und lerne, Mary. Bei Hof kann man sich keinen Fehler leisten.«
|11| Frühling 1522
»Morgen reise ich nach Frankreich und bringe deine Schwester Anne mit nach Hause«, verkündete mir mein Vater auf den Stufen des Palastes von Westminster. »Sie soll in den Hofstaat der Königin Mary Tudor aufgenommen werden.«
»Ich dachte, sie würde in Frankreich bleiben«, erwiderte ich. »Sie würde einen französischen Grafen heiraten oder so.«
Er schüttelte den Kopf. »Wir haben andere Pläne mit ihr.«
Ich wußte, es wäre sinnlos, ihn nach der Art dieser Pläne zu fragen. Am meisten befürchtete ich, daß die Familie für Anne eine bessere Heirat plante als meine. Dann müßte ich den Rest meines Lebens dem Saum ihres Kleides folgen, während sie vor mir herstolzierte.
»Schau nicht so mißmutig«, sagte mein Vater bissig.
Sofort setzte ich mein Höflingslächeln auf. »Selbstverständlich, Vater«, antwortete ich gehorsam.
Er nickte, und ich machte einen tiefen Knicks, während er sich bereits von mir abwandte. Ich erhob mich wieder und ging langsam zum Schlafgemach meines Mannes. An der Wand hing ein kleiner Spiegel, und ich stellte mich davor und starrte mein Ebenbild an. »Es wird alles gut«, flüsterte ich mir zu. »Ich bin eine Boleyn, und das ist keine Kleinigkeit. Meine Mutter ist eine geborene Howard, stammt aus einer der großartigsten Familien im Lande. Ich bin ein Howard-Mädchen, ein Boleyn-Mädchen!« Ich biß mir auf die Lippen. »Anne allerdings auch.«
Ich lächelte mein leeres Höflingslächeln, und das Spiegelbild lächelte zurück. »Ich bin zwar das jüngste Boleyn-Mädchen, doch bei weitem nicht das geringste. Ich bin mit William Carey verheiratet, einem Mann, der hoch in der Gunst des Königs steht. Ich bin der Liebling der Königin, ihre jüngste |12| Hofdame. Das kann mir niemand verderben. Nicht einmal sie kann mir das nehmen.«
Anne und Vater wurden durch Frühjahrsstürme aufgehalten. Ich hegte die kindische Hoffnung, ihr Schiff würde sinken und Anne würde ertrinken. Beim Gedanken an ihren Tod verspürte ich eine seltsame Mischung aus aufrichtiger Trauer und Freude. Ich konnte mir keine Welt ohne Anne vorstellen, und doch war auf dieser einen Welt auch kaum Platz für uns beide.
Schließlich traf sie unversehrt ein. Ich sah, wie mein Vater mit ihr vom königlichen Landesteg über die kiesbestreuten Pfade zum Palast schritt. Sogar aus dem Fenster im ersten Stock konnte ich den Schwung ihres Kleides und den eleganten Schnitt ihres Umhangs erkennen, und ich verspürte einen Augenblick
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