Die Schwester der Königin - Gregory, P: Schwester der Königin
durchdringend und provozierend anstarrte. Der König nahm seinen Platz neben der Königin ein und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.
»Die Schwester meiner lieben Mary Carey hat sich zu uns gesellt«, sagte die Königin. »Das ist Anne Boleyn.«
»Georges Schwester?« fragte der König.
Mein Bruder verneigte sich. »Jawohl, Majestät.«
Der König lächelte Anne zu. Sie versank kerzengerade in einen Hofknicks, hoch erhobenen Hauptes und mit einem kecken kleinen Lächeln auf den Lippen. Der König war davon sichtlich nicht sonderlich eingenommen. Er bevorzugte entgegenkommende Frauen, freundlich lächelnde Frauen. Frauen, die ihn mit finsterem Blick herausforderten, mochte er dagegen nicht.
»Seid Ihr glücklich, wieder mit Eurer Schwester vereint zu sein?« fragte er mich.
Ich machte einen tiefen Hofknicks und errötete ein wenig. »Natürlich, Eure Majestät«, antwortete ich liebreizend. »Welches Mädchen würde sich nicht nach der Gesellschaft einer solchen Schwester sehnen?«
Er runzelte über diese Worte ein wenig die Stirn. Der offene, derbe Humor der Männer war ihm lieber als der stachelige Witz der Frauen. Er blickte von mir zu Annes leicht fragendem Gesichtsausdruck, verstand dann meinen Scherz und lachte lauthals, schnippte mit den Fingern und streckte mir die Hand entgegen.
»Keine Sorge, mein Herz«, sagte er. »Niemand vermag eine junge Ehefrau in den ersten Jahren ehelichen Glücks in den Schatten zu stellen. Und Carey und ich, wir beide haben eine Vorliebe für blonde Frauen.«
Darüber lachten alle, ganz besonders Anne, die dunkles Haar hatte, und die Königin, deren rötliches Haar inzwischen zu einem Gemisch aus braun und grau verblichen war. Sie wären Närrinnen gewesen, wenn sie sich nicht herzlich über |18| den Scherz des Königs mitgefreut hätten. Und ich fiel ebenfalls ein, wenn auch mit mehr Freude im Herzen als sie, denke ich.
Die Musikanten spielten einen Tusch, und Henry zog mich zu sich. »Ihr seid ein sehr hübsches Mädchen«, lobte er mich. »Carey sagt mir, er fände an seiner jungen Braut solchen Gefallen, daß er in Zukunft nur noch mit zwölfjährigen Jungfrauen das Bett teilen will.«
Es fiel mir schwer, mit hoch erhobenem Kopf weiterzulächeln. Wir drehten uns im Tanz, und der König blickte freundlich zu mir herunter.
»Er hat Glück«, sagte er gnädig.
»Er hat Glück, weil er in Eurer Gunst steht«, stolperte ich ungelenk in ein Kompliment.
»Mehr Glück, weil er in Eurer Gunst steht, denke ich!« erwiderte er und lachte plötzlich lauthals los. Dann zog er mich an sich, und ich wirbelte durch die Reihe der Tanzenden und bemerkte den anerkennenden Blick meines Bruders und, was noch schöner war, Annes neiderfüllte Augen, als der König von England an ihr vorbeitanzte und mich in den Armen hielt.
Anne fügte sich rasch in das Alltagsleben des englischen Hofes ein und wartete auf ihre Vermählung. Noch hatte sie ihren zukünftigen Gatten nicht kennengelernt, und die Verhandlungen über die Mitgift schienen sich endlos hinzuziehen. Nicht einmal der Einfluß von Kardinal Wolsey, der wie in jeder anderen Angelegenheit im großen, weiten England seine Finger auch hier im Spiel hatte, konnte die Sache beschleunigen. Inzwischen flirtete Anne mit der Eleganz einer Französin, bediente die Schwester des Königs mit nonchalanter Anmut und vertrödelte jeden Tag viele Stunden mit Klatschgeschichten, Reiten und Glücksspielen mit George und mir. Wir hatten den gleichen Geschmack und waren uns im Alter recht nah: Ich war mit meinen vierzehn Jahren das Nesthäkchen, jünger als Anne mit ihren fünfzehn und George mit seinen neunzehn Jahren. Wir waren die engsten Verwandten und einander doch beinahe fremd. Ich war mit Anne am französischen Hof gewesen, |19| während George in England den Beruf des Höflings erlernt hatte. Jetzt waren wir wieder vereint und bei Hof schon bald als die drei Boleyns bekannt, die drei wunderbaren Boleyns. Der König rief oft, sobald er seine Privatgemächer erreichte, nach seinen drei Boleyns. Und dann kam jemand zum anderen Ende des Schlosses gerannt und holte uns.
Unsere wichtigste Aufgabe im Leben war, die vielen Feste des Königs durch unsere Gegenwart zu bereichern: Lanzenstechen, Tennis, Reiten, Jagen, Falknerei, Tanz. Henry liebte es, in einem ständigen Taumel der Erregung zu leben, und wir hatten dafür zu sorgen, daß er sich niemals langweilte. Aber manchmal, selten genug, in der ruhigen Zeit vor dem Abendessen oder
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