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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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als ein Attentat gegen seine
eigene Person, und mit den ersten Bewegungen und Worten brach er in sinnlose
Beschuldigungen aus. Er rannte im Zimmer auf und ab, sah unter das Bett, als
suchte er einen unbekannten Täter, hob die Arme gen Himmel und fluchte. In wechselndem,
erschrockenem und anklagendem Tonfall schimpfte er auf das Wetter, den Krieg
und die Selbstmörder, die sich von allen Ecken der Welt ausgerechnet sein
Gebirgshotel ausgesucht hatten, um dieses Jammertal zu verlassen. Seine Wut
schlug bald in Ratlosigkeit um, klagend sagte er immer wieder, dass »er nichts
dafürkönne«, er habe doch »alles getan«, den Fremden sein schönstes Zimmer zur
Verfügung gestellt, und er lispelte noch mehr ähnliche Sinnlosigkeiten. Wir
hörten seine Jeremiade wort- und tatenlos an. Eigenartigerweise eilte niemand
der sterbenden Frau zu Hilfe – gebannt standen wir am Ofen, hilflos und
neugierig, hörten die Klagen des Gastwirtes und sahen auf das feierliche Bild:
Z. stand, die Arme vor der Brust verschränkt, im Gesicht einen sehr aufmerksamen
Ausdruck, stumm am Bett der Frau und blickte auf das reglose Menschenpaar, das
tief und ruhig zu schlafen schien.
    Die Frau lebte noch. Aber Z. war der Einzige im Zimmer, der in
diesem wächsern gelben, toten Gesicht noch ein Zeichen des Lebens sah. Wir
anderen, Augenzeugen und Zuschauer, hörten keinerlei Röcheln und bemerkten auch
keine anderen Lebenszeichen. Z. dagegen stand mit verschränkten Armen da,
beugte sich manchmal hinab zu der Frau, prüfte ruhig und sachlich das Gesicht
mit den geschlossenen Augen, hob mit den Fingerspitzen die schlafenden Lider an
und beobachtete die Reflexe der starr blickenden Augen. Dann schüttelte er den
Kopf, als wäre er allein im Zimmer – allein mit den Toten, über die nur er
etwas Sicheres wusste. Er ging zweimal durchs Zimmer, blieb am Tisch stehen und
begann, die auf der Tischplatte aufgehäuften leeren Giftröhrchen und
verstreuten Gegenstände zu prüfen und zu sortieren. Vierzig kleine
aufgebrochene Phiolen zählte er, angesichts der Glasscherben nickte er befriedigt,
als hätte er genau das erwartet. Neben den leeren Giftphiolen lagen eine kleine
Spritze mit einer Kanüle und zwei Briefe, deren Beschriftung – der eine war an
den Gastwirt gerichtet, der andere an die Gendarmerie – die Handschrift des
Mannes zeigte. Das war alles. Z. nahm die Briefe, reichte den einen dem
Gastwirt und ging mit dem anderen Brief in der Hand langsam, ohne Eile, beinahe
wie ein Flaneur, ans Bett der Frau. Mit zerstreutem Blick sah er sich im Zimmer
um; er erkannte und winkte mich mit einem Augenzwinkern zu sich. »Die Frauen
ertragen es besser«, sagte er leise und vertraulich. Flüsternd fragte ich, ob
er nicht denke, dass wir ihr noch helfen könnten? Vielleicht gab es im Haushalt
des Gastwirtes eine Hausapotheke, wir könnten ihr einen starken Kaffee kochen
oder es mit künstlicher Beatmung versuchen. Er hörte mir geduldig zu, als hätte
er es mit dem Quengeln eines Kindes zu tun, und sagte dann höflich und ruhig:
»Überflüssig.« Verwirrt erinnerte ich ihn daran, dass die Frau noch lebe und dass
es unsere Pflicht sei, auch mit unseren unprofessionellen, primitiven Methoden
der Sterbenden zu Hilfe zu eilen. »Sie lebt«, sagte er geduldig, »aber sie
schläft schon. Aus diesem Schlaf gibt es kein Erwachen. Vielleicht in einer
Klinik, wo die Ärzte allerlei starke Mittel, herzanregende Heilmethoden zur
Hand haben, dort könnte man ihr vielleicht noch helfen.« Jetzt beugte er sich
wieder über das Gesicht der Frau. »Nein«, sagte er dann, leise und
entschlossen. »Wir können nichts tun. Auch in der Klinik könnten sie sie nicht
mehr aufwecken. Dieser Schlaf ist schon der Tod. Sehen Sie«, sagte er jetzt
lauter, lebhaft, streckte die Hand aus und wies auf die Gesichter der
Selbstmörder, »wie ruhig sie schlafen! Man stirbt nicht auf einmal.« Jetzt
flüsterte er wieder, vertraulich, als hielte er nur mich für wert, dieses
Geheimnis zu erfahren, und als hätte er keine Lust, auch die anderen in sein
Wissen einzuweihen. »Der Tod kommt nicht so, dass man tief aufseufzt und
stirbt. Der Tod ist eine Serie von Erscheinungen, zuerst fehlt ein Reflex, dann
der nächste. Der ist gestorben«, sagte er und wies auf den Mann. »Und jetzt ist
auch die Frau schon drüben, aber es dauert noch einige Minuten

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