Die Schwester
ich gerade einen der seltenen
Augenblicke erlebte, in denen die menschliche Seele sich ganz ohne
hochtrabendes Pathos, ohne kreischende Sentimentalität mitten im Lebensgedränge
mit dem wunderbaren Bewusstsein der Gnade füllt. Das Tal, der dunkle Wald, die
weiÃe Lichtung, alles funkelte im Mondlicht. Es war Heiligabend, und in der
Welt ermordeten die Menschen einander auch an diesem Abend, von Frieden
nirgends eine Spur, aber diese Landschaft, diese Lichtung und der Berggipfel
wussten nichts vom Unglück der Menschheit.
Lange stand ich so da. Natürlich musste ich an die Toten denken, die
im Automobil des jungen Gendarmerieoffiziers gerade hier entlanggefahren waren,
hinunter ins Tal, auf dem kurvenreichen Bergweg; ich musste an die
Zusammenhänge denken, an die unverständlichen Absichten und Leidenschaften
menschlicher Wesen. In diesem besonderen Augenblick hatte ich das Gefühl, die
Menschen seien wahrhaftig hoffnungslos. Warum sollten wir eigentlich hoffen,
dachte ich, warum glauben, dass groÃe Völker einander verstehen könnten, in den
Ländern der Welt friedlich nebeneinanderlebten, wenn der einzelne Mensch so
hoffnungslos und grundlos Opfer blinder Leidenschaften, wahnsinniger Erregungen
ist? Ich dachte an die Selbstmörder, die dieses Weihnachten auf so düstere,
jenseits der Alltäglichkeit doch tragische Weise zu einem verstümmelten, aber
bedeutungsvollen und erinnerungsträchtigen Fest gemacht hatten. Wie gewöhnlich,
wie ordinär war dieses traurige Drama â und doch: wie erschütternd und
unverständlich! Denn inzwischen wusste ich, wie jeder im Hotel, die Wahrheit â
diese widersinnige, verblüffende, bei aller Traurigkeit lächerliche und bei aller
Lächerlichkeit erschütternde Wahrheit, die aus ihren Briefen und Urkunden
unstrittig zum Vorschein gekommen war: Die Selbstmörder waren kein Ehepaar.
Augenzeugen eines Liebesselbstmordes waren wir an diesem eigenartigen Morgen
eines Heiligen Abends geworden. Die fünfzigjährige Frau war ihrem Mann
entflohen, einem Architekt aus der Hauptstadt, sie war von ihrer Familie
geflüchtet, von zwei Kindern, aus ihrem gemütlichen Heim, weil die Leidenschaft
sie überfallen und zu Boden geworfen hatte â und mit wem war sie geflohen?
Nicht mit einem GroÃstadt-Amoroso, einem hübschen jungen Herzensbrecher, nein,
mit einem Polier ihres Mannes, mit diesem beleibten, beinahe kahlen,
ungehobelten und einfachen Mann, der â selbst ebenfalls Familienvater â
wirklich nicht der Inbegriff des professionellen Frauenverführers war. Die
Leidenschaft, die diese beiden Menschen überwältigt hatte, war so elementar,
ihre ÃuÃerung und Personenwahl passte dermaÃen nicht in die Vorstellung, die
sich für die Menschen im Allgemeinen mit Liebesdramen verbindet, das Verhängnis
hatte jetzt mit so überraschenden und billigen Kunstgriffen gearbeitet, dass
ich in dieser friedlicheren Stunde, als ich mich ein wenig aus dem Bann des
Gesehenen und Gehörten gelöst hatte, tatsächlich körperlich vom Staunen
geschüttelt wurde. Was weià der Mensch vom Leben? Nichts Wahres. Wir leben mit
idealisierten, postkartenartigen Vorstellungen. Die »Liebe« ist eine
körperliche Darstellung, die sich bei Mondlicht in einer
Hand-in-Hand-Sentimentalität oder in der schwülen Beleuchtung einer roten Lampe
bei künstlichem oder ehrlichem Zähneklappern abspielt, so lehrt es die
Literatur, so wird es auf der Bühne gezeigt und auf den Leinwänden der
Lichtspieltheater. Es gibt Beatrice, Dantes Liebe â doch es stimmte auch, was Boccaccio
beteuerte, dass Dante in Wirklichkeit Frauen mit Kropf liebte. Was wissen wir
über diese Kraft, welche die menschliche Welt bewegt und von den Menschen Liebe
genannt wird und die auch für die Gesamtheit der Welt einen Sinn hat? Diese
Kraft paart die Lebenden und macht das Weltmaterial fruchtbar. Was wissen wir
über die Wirklichkeit dieser Kraft? Auf den Bühnen schlendert der ältere,
weise, überhebliche Herr umher, der vornehm und groÃherzig leidet wegen der
Anziehung zu einem jungen Geschöpf, oder die Hetäre, die hungrig und wehend
über die Bühne zieht, oder der schöne Mann, der mit kaltem Lächeln die
weiblichen Herzen bricht â die unverstandene, in ihrer Ehe unglückliche, kalte
Frau, die von einem interessanten Mann entflammt wird, das Gänschen, das sich
dem
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