Die Schwester
berühmten Filmschauspieler zu FüÃen wirft. Und all die anderen, die Lauge
trinken oder Veronal schlucken und sich damit im Delirium der Leidenschaft den
Hals umdrehen, wie es ihrer gesellschaftlichen Situation und ihrer Erziehung
entspricht. Aber was wissen wir über die Tagesnachrichten, Romane,
Theaterstücke, Filme und Fachaufsätze hinaus über die wahre Natur und die
Absichten dieser Kraft? Der Wissenschaftler hält die Liebe für ein Symptom
einer Nervenkrankheit, für einen heftigen Nervenanfall; die Literatur gibt
dieser Leidenschaft in jedem Zeitalter einen anderen Sinn, sie adelt sie,
erklärt sie zu den höchsten oder niedrigsten GefühlsäuÃerungen des Menschen.
Aber was ist die Wirklichkeit?
Auf dem Berggipfel war es still. Das Mondlicht, der Schnee und der
Frieden der dunklen Tannen lieÃen die Landschaft strahlen. Ich fror nicht; nach
der mehrtägigen Untätigkeit kreiste der reine Sauerstoff so erfrischend in den
Blutzellen meines Körpers wie ein Schluck Sekt. Die Wirklichkeit?, dachte ich.
Nun, das war die Wirklichkeit. Am selben Tag hatte ich sie gesehen, hier oben
auf dem Berg â so gewöhnlich, so überraschend, für einen Groschenroman ebenso
geeignet wie für die Polizeichronik in den Tageszeitungen, und doch so
wunderbar wie die groÃe Wende im Märchen, wenn der Königin ein Bart wächst und
der Stiefelschritt sieben Meilen misst. Lerne Demut, Schriftsteller â so
knurrte ich â, tiefe, tiefe Demut! Du weiÃt nichts über die Menschen und die
Kräfte, welche die Menschen bewegen, sie zu Leben und Tod drängen! Du weiÃt
nichts über die Liebe; einige mechanische Vorstellungen nur sind es, mit denen
du arbeitest. Die Wirklichkeit ist viel überraschender, ihre Vorstellungskraft
reicher, zauberhafter, als der Mensch sich eine menschliche Lage vorzustellen
vermag. Ich habe dieses Menschenpaar gesehen, lebendig und tot, habe gesehen,
wie sie sich in diesen Tagen duckmäuserisch winselnd versteckten, wie
verstohlen sie in den Gemeinschaftsraum kamen, um die Radionachrichten zu
hören. Ich sah sie aufgebahrt, und da hatte sich ihr Schicksal bereits zu einem
der unbedeutenden Ereignisse der Tagesnachrichten gewandelt. Ãber ihr Schicksal
hatten sie etwas hören wollen durch das Rauschen des Radios, über die
verlassene Heimat, ihre verzweifelten Lieben, über Mann und Kinder der Mutter,
über die Familie des traurigen, dicken Poliers â die Meinung der Welt hatten
sie hören wollen, ob sie sie verurteilte oder ihnen verzieh. Aber das Radio
hatte von zerstörten GroÃstädten gesprochen, von Tausenden von Toten, von
statistischen Daten â und sie zitterten inmitten ihres Verhängnisses oben auf
dem Berg, in der groÃen Schlacht ihres besonderen, kleinen Weltkrieges starben
sie und bekamen keine Antwort auf das Unverständliche, das mit ihnen geschah.
»Zur Liebe braucht man keine Schönheit, zur Liebe braucht man keinen Geist â¦Â«,
mir fiel diese groteske musikalische Erklärung ein, und jetzt konnte ich nicht
mehr über sie lachen. Ein Gefühl von Beklemmung und Ohnmacht erfüllte mich. Sie
hatten ruhig im Bett gelegen, sittsam wie ein altes Ehepaar, friedliche
Menschen, die nach den Stürmen des Lebens ruhig und gemeinsam im ewigen Hafen
angekommen waren. Aber welcher Sturm war diesem friedlichen Ausruhen
vorangegangen, welche Leidenschaft lieà diese einfachen, erschrockenen Herzen
schlagen? Die Frau war sichtbar nervenkrank, der starre Blick ihrer blauen
Augen, ihr erschrocken mechanisches Benehmen, all das bestätigte auch dem
Uneingeweihten, dass diese verblühte Schönheit nicht mehr Herrin über ihr
Nervensystem war. Der Mann war fast gleichmütig in seinem Verhängnis, wie er an
seiner Zigarre kaute, die Nachrichten anhörte, kurzsichtig umherblinzelte â wie
viel lieber hätte auch er in Gesellschaft der Nimrods den Wacholderpálinka
kreisen lassen, und wie wenig passte zu ihm, seinem Körper, seinem Charakter,
seiner gesellschaftlichen Stellung diese wahnsinnige Rolle, die er nach dem
Willen der Leidenschaft spielen musste! Wie lächerlich kann das Schicksal
manchmal sein â und gleichzeitig so düster und bestürzend!
Am nächsten Tag erfuhren wir aus den Zeitungen, die sich sogar
mitten in den Schreckensnachrichten des Krieges mit schmatzender GefräÃigkeit
auf die Delikatesse dieses
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