Die Schwester
oder Stunden,
bis sie sich vollkommen beruhigt.« Wir schwiegen. Z. prüfte mit vorsichtigen
Fingern abermals das Augenlid der Frau. »Tot«, konstatierte er dann ruhig und
richtete sich auf. Und als hätte er hier nichts mehr zu tun, wandte er sich um,
würdigte weder die Toten noch die Lebenden eines Blickes und ging mit
aufrechter Haltung und ruhigen Schritte aus dem Zimmer.
Die Gendarmen kamen gegen vier Uhr am Nachmittag, das Summen der
kleinen Gesellschaft hatte sich bis dahin schon etwas beruhigt. Jeder »wusste
alles«, der Gastwirt hatte die im Briefumschlag verschlossene Nachricht des
toten Mannes gelesen, und die Gendarmen, die mit dem Automobil aus dem Tal
heraufkamen, sorgten dafür, dass die Leichen, in Laken gewickelt, auf den
Sitzen des Automobils untergebracht wurden. Der Gendarmerieoffizier, der die
traurige Operation leitete, improvisierte eine kurze Vernehmung, er fragte den
Gastwirt und die Dienerschaft aus, wechselte höflich einige Worte mit Z. und
allen, die in dem Zimmer waren, als die Selbstmörder gefunden wurden. Ein
Protokoll wurde erstellt, unsere Namen und Anschriften notiert, die leeren
Giftröhrchen, die Spritze und die Gepäckstücke wurden ins Automobil geladen,
die Tür des Totenzimmers versiegelt. Der Gendarmerieoffizier setzte sich ans
Lenkrad und fuhr mit seinen stummen Reisenden in die nahe Kleinstadt hinunter
ins Tal. »Die Tatsachenlage«, wie er es nannte, »war klar«: »Tatsache und
Umstände« des Selbstmordes wurden von der Wirklichkeit und dem Brief, von den
Urkunden, die in den Sachen des Mannes und der Frau gefunden wurden, mit einem
Wort, von »allen Umständen« vollkommen bezeugt, und der junge Gendarm
wiederholte mit fachmännischer Befriedigung und Sachkenntnis immer wieder diese
offiziellen Gemeinplätze. Es war schon dunkel, als das Automobil auf dem
gewundenen Weg des Kiefernwaldes den Augen der Gaffer entschwand. Die beiden
einfachen Gendarmen salutierten stramm, zogen mit einer Hand die Gurte von
Flinte und Tschako fest und machten sich zu Fuà auf den Weg, durch den dunklen
Wald ins Tal, dem Automobil hinterher.
So blieben wir zurück, der Heilige Abend begann. Und als bedeutete
dieses schmerzlich überraschende, tragische Zwischenspiel eine Wende in unserem
Leben, hatte schon in den frühen Nachmittagsstunden der Regen aufgehört und der
Schneefall eingesetzt. Weich und gleichmäÃig rieselte der Schnee auf die Landschaft;
der kalte Nordwind vertrieb die Wolken über den Gipfeln, und durch den
Schneefall hindurch erblickten wir den Vollmond und die Sterne. Gegen sechs Uhr
ging ich los in den Wald. Der Frieden, der sich so unerwartet wie versöhnlich
über die düstere Welt ausbreitete, die Sanftheit des Schneefalls, die groÃen
dunklen Tannen, die innerhalb von Augenblicken ihr weiÃes, weihnachtliches
Festkleid angezogen hatten, die stumme Erhabenheit der verschneiten Berggipfel,
die durch den Schneefall schimmerten, das silberne Licht, das der Vollmond über
die eben noch aufgeweichte und gequälte Landschaft strömen lieÃ, all das wirkte
nach den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit tatsächlich wie ein wunderbares
Geschenk des Himmels. Der frische Schnee knirschte unter den genagelten Sohlen
meiner Stiefel, und die Landschaft hatte sich innerhalb einiger Stunden durch
die Gnade eines himmlischen Zaubers in eine Bühne einer friedlichen, feengleich
glänzenden Festlichkeit verwandelt. Nach fünf Tagen Nässe und Nebel, nach der stickigen
Zimmerluft mit ihrem Geruch nach Tabak und Speisen, sog ich den ätherischen
Duft in vollen Zügen ein; das edle Aroma des aufatmenden Kiefernwaldes, der
Lichtungen, die endlich von der erstickenden Nebeldecke befreit waren, die Luft
der Bergwelt, lieà das Herz höherschlagen und die Seele klingen. Diese
Veränderung war, als hätte ein Zauberer â und ich glaubte zu ahnen, wer dieser
Zauberer war â mit einer huldvollen Bewegung alles materielle und irdische
Elend beendet. Der Schnee fiel gleichmäÃig in dicken Flocken, mit fettiger,
warmer Stofflichkeit, und die Landschaft schmiegte sich wie ein bibbernder,
durchgefrorener Mensch glücklich unter das warme, weiche Federbett. Ich kam auf
eine Lichtung und blieb stehen; auf meinen genagelten Stock gestützt betrachtete
ich das Tal, wo in einigen Häusern schon die sanften Lichter des Heiligen
Abends aufleuchteten; ich spürte, dass
Weitere Kostenlose Bücher