Die Schwester
Abreise, begleitet â dieses Gefühl, dass die
geschriebenen und ungeschriebenen Verträge, die mein Leben und meine Arbeit,
meine persönlichen und geschäftlichen Kontakte regelten, in diesem Augenblick ihre
Gültigkeit verloren. Abreisen, das war das reinste, gröÃte weltliche Erlebnis
der vergangenen Jahrzehnte! Aber reisten wir anders in diesen Jahren, wir
Kinder dieser Zeit, als mit schlechtem Gewissen, mit heimlicher Beklemmung?
Jeder, der zwischen den beiden Kriegen einen Zug, ein Schiff oder ein Flugzeug
bestieg, roch in der glücklichen Aufregung der Abreise die Angst, dass dies
eine der letzten freien und sorglosen Reisen sein könnte. Diese Welt voller
Schreckensnachrichten und Panikgeruch, in der wir seit zwei Jahrzehnten lebten,
bot auch während der Reise keine Möglichkeit für völliges Vergessen. Goethe
reiste noch für das Erlebnis der edlen Beute, dachte ich; wir, die wir keine
Goethes sind und in einer Zeit leben, in der nichts mehr sicher ist, reisen,
als versuchten wir im letzten Augenblick das Unmögliche, als wollten wir
ausbrechen aus dem Quarantänegebiet des Verhängnisses, ausbrechen, aber wohin?
Die ganze Welt bebte und wand sich unter dem harten Gesetz eines einzigen
Schicksals. Dies wussten wir schon in dem Augenblick, als die Feuersbrünste des
Ersten Weltkriegs aufflammten. Ich reiste, und dieses wunderbare Erlebnis, das
mich in den vergangenen Jahrzehnten viele Male für alles entschädigt hatte, was
mir in meinem Schicksal ungerecht oder unerträglich erschienen war, gab mir
jetzt nicht das glückliche Entzücken der selbstvergessenen Zufriedenheit. Ich
sah auf die groÃen Ãberschriften der Abendblätter auf dem Tisch, spürte den
herb-süÃen Duft meiner Zigarette und des französischen Rotweins, der Zug eilte
mit leisem Rattern durch die Nacht, durch bekannte Landschaften â am Morgen
würde ich in Venedig sein, gegen Mittag in Florenz, morgen Abend würde ich mich
in einem schönen Raum vor andächtig lauschenden, musikverständigen Menschen ans
Klavier setzen und versuchen, ihnen das zu sagen, was mir die Musik sagte â ich
hatte allen Grund, dem Schicksal zu vertrauen. Ich war nicht mehr jung, fühlte
mich aber gesund, vor einigen Wochen hatte mich ein vorübergehendes Unwohlsein
in der Arbeit gestört, Kopfschmerzen, eine Art Müdigkeit â gewiss hatten in der
vergangenen Zeit die Arbeit und vielleicht auch noch anderes mit groÃer Kraft
zu mir gesprochen. Es war eine weise Einrichtung des Schicksals, dass ich
gerade jetzt reiste. Die Reise ist Erneuerung, ist Verantwortungslosigkeit,
glückliche Trance, Begegnung mit den Nebelbildern der verflogenen Jugend! Der
Botschafter hatte recht gehabt, ich musste jetzt verreisen, und gerade nach
Florenz, in die Stadt, deren Namen ich nie aussprechen konnte, ohne das Entzücken
und das andächtige Glück zu spüren, das nur die Erinnerung an einzelne
Musikstücke in mir hervorrufen konnte. Nur noch wenige Stunden; weil der
Mechanismus der Zivilisation so fehlerlos funktionierte, dann würde ich wieder
am Ufer des Arno stehen, die Hügel und die Kirchtürme, die Hausdächer und die
schmalen Gassen sehen, wo all das, was mich angeht, sich einst in wunderbarer
Fülle getroffen hatte: die Harmonie, die ewige Harmonie der schaffenden Kraft,
die aus Stein, Linien, Farbe und Lichtbrüchen über dem irdischen Elend als
zeitloses Kunstwerk entstanden war. Vielleicht lässt nur die Erinnerung an die
Jugendliebe das Herz des Erwachsenen so schlagen, wie das meine jetzt beim
Gedanken an Florenz schlug. Lautlos sprach ich seinen Namen aus, und ein Strom
der edelsten, selbstlosesten Freude des Glücks überflutete meinen Körper â das
Glück, wenn man von demjenigen, den man liebt, nichts will, nur sich erfreuen
und lieben. Und sofort fiel mir wieder E. ein und alles, was hinter mir lag.
Ich fing an, in den Zeitungen zu blättern.
Warschau war gefallen. Die Polen â wie nahe waren auch sie meiner
Seele! â, ein Volk, das ein Schicksal hat, ein trotziges und unversöhnliches
Schicksal! Ihr Schicksal ist es, von Zeit zu Zeit zugrunde zu gehen. Und dies
ist auch der eigentliche Sinn ihres Schicksals. Mit welch wilder Kraft und
welch zähem Wuchs sie aus den Tiefen des Unglücks auferstehen! Vielleicht wären
sie tatsächlich untergegangen, wenn ein friedlicheres Schicksal ihnen
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