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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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auseinanderzunehmen wie einen zerbrechlichen
Befund, wie eine winzige Einheit, ein Atom, das die Erklärung für alles in sich
enthält, was zum Leben gehört: eine souveräne, winzige Batterie, die materielle
und geistige Energie enthält. Dies war der Augenblick, in dem es »anfing«, in
dem sich mein Leben von all dem trennte, was bisher seine Bedingung und sein Sinn
gewesen war, in dem etwas in mir starb und ich zugleich neu geboren wurde, in
dem ich gleichsam für das Leben starb und für den Tod geboren wurde. Tat mir
etwas weh in diesem Augenblick? Ich erinnere mich an keinerlei Schmerz.
Verspürte ich Furcht, eine außergewöhnliche Erregung? Nichts verspürte ich. Ich
war ruhig. Und zugleich wusste ich gnadenlos scharf, dass »es begann«, wie
jemand, der in Gefahr geraten ist, mitten in einem weltlichen Unglück die
Anzeichen der Explosion bemerkt. Ich tastete nach dem Puls an meinem
Handgelenk. Mein Herz pochte ruhig, mit gleichmäßigen, tiefen Schlägen. Nun, es
ist so weit, dachte ich und ließ mich auf die Liege zurücksinken.
    Der Zug kletterte irgendwo über den Tälern des Karstgebirges
entlang. Wenn es so weit war, dann war nichts zu machen, war mein nächster
Gedanke, man musste es ertragen. Wie würde es sein? Schmerzhaft? Empfindsam?
Beunruhigend? Laut? Keine dieser Möglichkeiten konnte ich mir vorstellen. Und
zugleich dachte ich sachlich auch daran, dass ich keine Ahnung hatte, was es
denn war, was »so weit war«. Der Tod? Ich fühlte mich kerngesund. Die Zigarette
schmeckte. Am Mittag würde ich in Florenz ankommen. Vor dem Konzert würde ich
einen Spaziergang am Ufer des Arno unternehmen, hinaus in den Cascine. Nein, über
den Ponte Vecchio würde ich gehen, mir den Flohmarkt der Silberwaren ansehen
und Meister Cellinis Statuen grüßen. Nein, lieber würde ich mich auf die Via
Tornabuoni setzen, im Giacosa ein Glas Vermouth
trinken und mir die florentinischen Schönheiten ansehen und all jene, die sie
begafften. All das würde wunderschön sein; langsam würde ich Florenz auf mich
wirken lassen, mit dem klugen Entzücken des Genießers, anders als bei den
ersten Begegnungen, als ich mich mit dem selbstsüchtigen Verlangen eines gierigen
Liebhabers auf den wunderbaren Körper dieser Stadt geworfen hatte.
Wiederzusehen und wieder anzunehmen ist eine tiefere Lust, als zu entdecken und
festzuhalten. Jetzt würde sich Florenz hingeben, mit der stolzen und
selbstbewussten Schamlosigkeit der vertrauten Geliebten, die ihre Schleier ohne
Angst und Umschweife löst. Und dann dachte ich – dachte? Wusste! Vom Scheitel
bis in die Zehenspitzen, mit dem ganzen Körper wusste ich es: Schade, dass es
gerade jetzt begonnen hat! Aber was, um Gottes willen? Und da antwortete ich
bereits: Von diesem Augenblick an würde alles anders sein. Versteh doch – so
antwortete ich dieser Stimme –, jetzt, da es geschehen ist, wird alles anders
sein: die Musik, dein Verhältnis zur Musik, dein Verhältnis zur Welt und zu deinem
Körper, zu den Menschen, die du liebtest. Auch zu E.? Ja, auch zu E.,
antwortete ich ruhig. Und die Stimme, die, ich weiß nicht, woher, zu mir sprach
– schickte sie mir eine Botschaft aus meinem Körper oder durch das Rattern des
Zuges und den Lärm der Welt aus dem All? –, fragte kalt und sachlich: »Hast du
diese Frau tatsächlich geliebt? War das nicht ein künstliches, eitles
Verhältnis, vor dem du jetzt einfach fliehst? Wie kann ein Mann eine Frau
lieben, die dem Geliebten niemals ihren Körper gegeben hat? Mit welch schlimmen
Spielen hast du diese Jahre verbracht? Ein sinnloses und krankhaftes Spiel war
es, und vielleicht musstest du vor dieser hoffnungslosen Beziehung in die Musik
fliehen?«
    Die Stimme fragte – ich könnte ihren musikalischen Tonus mit Noten
aufschreiben, ihren echten Klang! –, und ich antwortete sofort:
    Â»Ich weiß, dass E. keine irdische Geliebte ist.«
    Die Stimme, gereizt:
    Â»Keine Umschweife! Irdische Geliebte, was für ein verlogenes Wort!
Sprich einfach die Wahrheit aus! Frigide! Ein ekelerregendes
Wort, ich weiß, es hat einen medizinischen Beiklang, es erinnert an
Laboratorien und riecht nach Karbol und Formalin. Alles, was ihr beide, ihr
Mann und du, so vornehm und hochtrabend erklärt, ist in Wahrheit ein
gewöhnlicher Krankheitsfall, und nicht einmal so ein seltener! Die

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