Die Schwester
dieser alte Herr,
der mich zu Reise und Auftritt ermunterte, sollte er etwas wissen? Wir
beobachteten einander aufmerksam.
»Ich habe viele Freunde in Florenz«, sagte er bescheiden. »Selbst
stamme ich auch aus der Toskana.« Er sprach mit beinahe entschuldigendem
Tonfall. Ja, ich wusste, dass auch er »Toskaner« war, Sprössling einer der
ältesten Familien, der Name seiner Ahnen taucht sogar in den Zeilen der Göttlichen Komödie auf. »Wenn Sie reisen, werden wir, meine
Freunde und ich, alles dafür tun, dass Sie sich nicht allein fühlen.«
All das wurde höflich gesagt, und keiner von uns ahnte, wie nötig
ich es haben würde, dass seine Freunde für dieses Versprechen einstanden und
ich mich in Florenz nicht allein fühlte. Was weià dieser Mann?, überlegte ich.
Seine alten, wässrigen blauen Augen sahen mich milde an, mit der freundlichen
Höflichkeit, mit der Menschen, die die Welt und das menschliche Elend von oben
gesehen haben, sich mit ohnmächtiger Anteilnahme zu allem Menschlichen
niederbeugen. Dieser Mann hatte jahrelang in China gelebt, in Amerika, in den
westlichen GroÃstädten, wo er seine Heimat vertrat, er hatte die ganze Welt
gesehen und in den groÃen Perspektiven gelernt, die kleinen Welten zu achten,
das Menschliche, all seine Verirrungen und sein unbeholfenes Elend. In seinem
Blick waren weder Spott noch Ãberheblichkeit zu entdecken. Ich begriff, dass er
etwas wusste, vielleicht mehr als andere, und ich begriff auch, dass er Gutes
wollte, dass er mehr und anderes wollte als das, wozu er mich ermunterte.
Ich bat mir Bedenkzeit aus, sprach mit E. und ihrem Mann. Das
Gespräch â das spürten wir alle drei â entschied über unser Schicksal. Drei
Tage vergingen, bis ich den Botschafter aufsuchte, ihm für die Einladung dankte
und sie annahm. Zwei weitere Tage später brachte mir ein Beamter der Botschaft
den mit Visa vollgestempelten Reisepass, das Schlafwagenticket und all das, was
ich während meines Aufenthaltes in Florenz brauchen konnte: eine Anweisung auf
eine dortige Bank, das Honorar für das Konzert und einen Empfehlungsbrief des
Botschafters. Ende September, an dem Tag, als die Abendzeitung, die ich auf dem
Bahnhof kaufte, bekannt gab, dass Warschau gefallen sei, reiste ich mit dem
Schnellzug in Richtung Rom bis nach Florenz. Es war ein lauer und schwüler,
duftender Herbstabend. Von Florenz wollte ich nach Verona fahren und von dort
aus für einige Tage an den Gardasee. Ich setzte mich ans Fenster und sah auf
die Donau, auf die Eisenbahnbrücke. In drei Wochen werde ich wieder zu Hause
sein, dachte ich.
Die Reise verlief ohne Hindernisse und Störungen. Als hätten
mich riesige Hände über alle Gefahren und Schwierigkeiten hinweggehoben. Ein
Bürger eines neutralen Staates reiste durch neutrale Staaten, die in diesem
Augenblick noch keine Flugasche des Krieges versengt hatte. Das alte Personal
des internationalen Zuges eilte den Schlafwagenpassagieren mit einer
Höflichkeit zu Hilfe wie in Friedenszeiten; der Kontrolleur bat um den
Reisepass, wünschte eine gute Nacht und beruhigte mich, dass die Zöllner und
Grenzpolizisten an der jugoslawischen Grenze die schlummernden Fremden nicht
stören würden. Wir fuhren am Balaton vorbei, ich lieà Abteil und Gepäck in der
Obhut des Schaffners und ging in den Speisewagen. Alles war vertraut in diesem
schönen Zug, alles empfing mich mit der Sorglosigkeit und der Fülle der
Friedenszeit, die Speisekarte, auf der wohlschmeckende Gerichte und
ausländische Getränke angeboten wurden, die lautlose Höflichkeit des
ausgewählten Personals, die schwingende und wiegende Bequemlichkeit der groÃen
Pullmanwagen. Dieser Zug eilte noch durch Friedenslandschaften, abseits von
allem, was Krieg bedeutete und was in jenen Tagen eher ein ferner,
unverständlicher, unwahrscheinlicher Albtraum zu sein schien. Ich setzte mich
an den schmalen Tisch, lieà mir eine kleine Flasche französischen Rotweins
öffnen, zog die Handschuhe aus, steckte mir eine amerikanische Zigarette an â
meine Freunde von der Botschaft verwöhnten mich in dieser Zeit noch reichlich
mit derartigen Seltenheiten â, warf die auf dem Bahnhof gekauften
Abendzeitungen und Illustrierten auf den Tisch und überlieà mich dem
vertrauten, guten Gefühl, das eines der schönsten Erlebnisse des Lebens, die
Reise, genauer gesagt die
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