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Die Schwester

Die Schwester

Titel: Die Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandor Marai
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über etwas anderes, Allgemeineres, das sich auch auf das gemeinsame
Schicksal der Menschen beziehen lässt. So empfand ich es, und ich glaube, ich
handle in Z.s Sinne, wenn ich den gedruckten Aufzeichnungen keinerlei
Anmerkungen hinzufüge. Spricht ein Mensch vom jenseitigen Ufer über die Fragen
von Leben und Tod, über die großen Emotionen, die das menschliche Leben
antreiben, wie Glaube, Liebe und Leidenschaft, dann können all jene, die noch
am hiesigen Ufer stehen, nichts erwidern. Sie können nur aufmerksam zuhören.
Mit dieser Aufmerksamkeit und dieser ohnmächtigen Neugier beugte ich mich über
die Seiten, als ich das Manuskript zum ersten Mal las. Auf die Fragen nach dem
Zusammenhang zwischen Leben und Tod kann auch dieses Manuskript nicht
antworten, aber gibt es überhaupt eine andere Antwort als die Demut, mit der
wir unser Schicksal annehmen sollen?
    Hier folgt Z.s Manuskript.

3.
    â€¦ Ende September beschloss ich, die Einladung der
italienischen Regierung anzunehmen und nach Florenz zu fahren. Die Einladung
hatte mir der Botschafter überbracht, und als er meine Überraschung und meinen
Widerwillen erkannte, versuchte er mit ernsten Worten, mich zu überreden. Bis
heute habe ich keine Ahnung, wie gut dieser Mann über die Beziehungen Bescheid
wusste, die mich mit E. verbanden. Der sehr geschlossene, stickige Kreis, der
in einer Großstadt »Gesellschaft« genannt wird und zu dessen geheimeren,
tieferen und rituelleren Schichten alle gehören, die mit der Diplomatie zu tun
haben, wusste natürlich, dass ich seit Jahren Gast in E.s Haus war. Der
italienische Botschafter lebte das dritte Jahr bei uns, und es verging kein
Monat, in dem wir einander nicht irgendwo bei Freunden in einem Salon
begegneten, wo sich alle, die Geburt, Rang, Vermögen oder Berufung in eine
edlere Interessengemeinschaft zieht, ob sie wollen oder nicht, mit trotziger
Wiederholung treffen. Ich hatte ihn auch auf meinen Konzerten gesehen – der
weißhaarige, vornehme und traurige Mann, der die tugendhafte Schwermut nicht
nur einer Familie und eines Individuums, sondern einer europäischen
Menschenrasse zu tragen schien, war selbst ebenfalls Kunstliebhaber und
Musiker; mit der durch Bildung geförderten unspezifischen Begabung eines
gesellschaftlichen Menschen zog ihn alles an, was Geist und Kunst war, und er
verheimlichte nie, dass er Begabung als die einzige, unanfechtbare Größe der
Menschen ansah – als einen Rang, der jede Herkunft und jeden Titel übertrifft.
»Der Künstler hat seinen Rang von Gott bekommen«, sagte er einmal. »Die Menschen
können ihm nur noch Flittergold geben.« Gewiss wusste er, dass ich seit Jahren
Freund, ja Familienmitglied im Hause eines seiner diplomatischen Kollegen war,
wo mich die Frau und der Mann gleichermaßen mit ihrer Sympathie und ihrem
Vertrauen auszeichneten. In der kleinen Welt, in der sich das Leben dieser
Menschen, das sogenannte gesellschaftliche Leben, abspielte, wusste dies jeder,
und jeder glaubte die Wahrheit zu wissen, die grob und allgemein gesprochen
wahrscheinlich sehr alltäglich schien: Ich bin der Freund der Frau, der Mann
schweigt und duldet dieses Dreiecksverhältnis gleichgültig, vielleicht sogar
erleichtert. Über all das sprachen wir, E., ihr Mann und ich, natürlich nie,
aber ich glaube, wir wussten alle drei von diesem plumpen und doch so leicht
nachvollziehbaren Tratsch. Wir fanden uns damit ab, ließen es ohnmächtig zu,
der eine, weil es unter seiner Würde war, gegen die Unterstellungen der Welt zu
protestieren, der andere, weil er weder Kraft noch Möglichkeit zu diesem
Protest hatte. Der Botschafter ermutigte mich lange und freundlich, die
Einladung der italienischen Regierung anzunehmen; er sagte, wer es auch im
Krieg als seine Aufgabe ansehe, die Menschen zu erfreuen, sie edel zu
unterhalten, diene der Bildung; der Künstler sei immer auch Diplomat – und er
zählte noch einige derartige Gemeinplätze auf.
    Als ich zögerte, sah er mir ernst ins Gesicht und sagte
mit der sanften und freundlichen Überlegenheit eines Mannes von Welt: »Der
Krieg ist da, und langsam werden die Schranken zwischen den Ländern
hinuntergelassen.« Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Man wird nicht mehr
lange reisen können in Europa. Aber Sie haben es nötig, jetzt hier wegzukommen.
Nicht wahr?«
    Â»Woran denken Sie?«, fragte ich.
    Aufmerksam

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